Bluternte: Thriller
Mädchenkram war das ja schon, aber das war völlig egal. Es war ein schulfreier Nachmittag, und morgen dann – Weihnachtsferien.
Tom fühlte, wie er im Bus nach vorn geschubst wurde. »Vorsichtig beim Aussteigen«, sagte Mr. Deacon, der Direktor. »Ich habe keine Lust, den Nachmittag in der Notaufnahme zu verbringen.«
Tom grinste vor sich hin, als er auf den Gehsteig hinunterkletterte. Ein zweiter Bus war auf der Blakeymoor Street vorgefahren, und die Erstklässler stiegen gerade aus. Die meisten waren noch nie auf einem Schulausflug gewesen und schauten sich staunend um, wie gebannt von der Weihnachtsbeleuchtung. Tom sah, wie Joe aus dem Bus sprang und dabei mit Leichtigkeit eine Stufe überwand, die halb so hoch war wie er. Er fing Toms Blick auf und winkte.
Unfähig, beim Gehen nicht zu hüpfen, schloss Tom sich der Schülerreihe an und betrat die King George’s Hall.
66
»Glaubst du, es ist wichtig, wo es passiert ist?«, fragte Evi, als Harry sie durch die Kirche führte. »Dass es von allen hoch gelegenen Stellen, von denen man kleine Kinder hinunterwerfen kann, ausgerechnet diese sein muss?«
»Ich bin mir ganz sicher«, erwiderte er. »Hier sind die Morde passiert.« Evis Blick wanderte widerstrebend zu der Empore hinauf, die sich fast direkt über ihnen befand. »Das ist widerwärtig.«
Harry schaute ebenfalls empor. »In dieser Kirche ist irgendetwas verkehrt, Evi. Ich glaube, das habe ich schon gemerkt, als ich sie zum ersten Mal betreten habe.«
Er fühlte, wie ihre Finger leicht seine Hand streiften.
»Gebäude nehmen etwas von dem in sich auf, was sich darin abspielt«, fuhr er fort. »Ich weiß, dass das nicht jeder so sieht, aber ich bin mir da sicher. Normalerweise fühlen Kirchen sich an wie friedliche, sichere Orte, weil sie jahrzehntelang, manchmal sogar jahrhundertelang Hoffnung, Gebete und Wohlwollen absorbiert haben.«
»Aber diese nicht?« Ihre Finger schlossen sich um seine Hand.
»Nein«, antwortete Harry. »Diese hier fühlt sich einfach nur an wie Schmerz.«
Einen Moment lang verharrten sie regungslos. Und dann, genauso, wie er es sich gedacht hatte, legte Evi die Arme um ihn. Es war nur eine Umarmung, ein Augenblick des Trostes, doch es war unmöglich, ihr so nahe zu sein und nicht den Kopf zu ihrem Hals hinabzusenken, jenen kleinen Leberfleck zu finden, das Gesicht in ihr Haar zu pressen und tief einzuatmen. Dann rührte sie sich in seinen Armen, bog den Kopf zurück, und es war undenkbar, sie nicht zu küssen.
Momente vergingen, und das Einzige, woran er denken konnte, war, dass die Welt letzten Endes doch nicht so schlecht sein konnte, da Evi zu ihr gehörte, und würde er wohl bis in alle Ewigkeit verdammt sein, wenn er sie sanft hochhob, sie auf die Kirchenbank neben ihnen legte und sie den ganzen restlichen Nachmittag lang liebte?
Dann gab Evi einen keuchenden Laut von sich, der nichts mit Leidenschaft zu tun hatte. Sie war in seinen Armen brettsteif geworden, war von ihm zurückgezuckt, starrte über seine linke Schulter. Kalte Luft in seinem Nacken verriet ihm, dass die Kirchentür offen war. Er trat zurück und drehte sich um.
Gillian stand in der offenen Tür. Eine Sekunde lang dachte Harry, sie würde gleich ohnmächtig werden. Dann sah es aus, als würde sie vielleicht in blinder Wut auf ihn und Evi losgehen. Sie tat weder das eine noch das andere. Sie drehte sich einfach nur um und rannte davon.
67
Millie stand in der Tür und sah ein paar Hühnern zu, die die Gasse hinauf- und hinunterstolzierten. Auf der anderen Seite der Einfahrt lud ihre Mutter gerade Einkäufe aus dem Auto. Sie richtete sich auf und kam auf die Tür zu.
»Gehst du wohl wieder rein?«, sagte sie zu der Kleinen und beugte sich zu ihr hinunter. »Es ist doch viel zu kalt.« Sie quetschte sich an dem Kind vorbei und verschwand. Gleich darauf fassten ihre Hände Millie um die Taille. »Ich mein’s ernst«, sagte sie energisch, während sie ihre Tochter hochhob und ins Haus zog. »Du fällst noch die Stufen da runter.«
Einen Augenblick lang war die Türöffnung verwaist, dann erschien die Mutter abermals. Rasch ging sie zu ihrem Auto und holte die letzten Einkaufstüten heraus. Als sie sich aufrichtete und den Knopf an dem Ding in ihrer Hand drückte, mit dem man das Auto abschloss, tauchte das Kind von Neuem in der Tür auf. Die Kleine warf einen kurzen, verstohlenen Blick zu ihrer Mutter hinüber, ehe sie sich den Hühnern zuwandte, die sich in den Garten verirrt hatten.
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