Bluternte: Thriller
du ihn holen, bitte?«
Harry brachte Evis schwarze Ledertasche, die sie neben der Tür hatte stehen lassen, und stellte sie vor ihr auf den Schreibtisch. Während sie den schmalen Laptop herauszog und ihn anschaltete, rollte er seinen Stuhl um den Schreibtisch herum, so dass sie nebeneinander saßen. Evi öffnete ein Fenster und drehte dann den Computer so, dass Harry es sehen konnte. Sein Blick huschte zum Titel am oberen Rand.
»Kongenitale Hypothyreose«, las er und wandte sich Bestätigung heischend zu ihr um. Sie nickte.
»Nachdem Tom Joes Bild als Gedächtnisstütze hatte, konnte er mir das Mädchen sehr genau beschreiben«, berichtete sie. »Aber es ist der Kropf, der es wirklich verrät.«
»Und was genau ist das?« Harry hatte den Text unter der Überschrift überflogen, konnte dem medizinischen Jargon jedoch nicht allzu viel entlocken.
»Im Großen und Ganzen ein Mangel an dem Hormon Thyroxin im Körper«, erklärte Evi. Sie war nur Zentimeter von ihm entfernt. Er konnte ihren süßen, warmen Geruch riechen, zu zart, um Parfüm zu sein. Seife vielleicht oder Körperlotion. Er musste sich konzentrieren.
»Thyroxin wird von der Schilddrüse produziert, vorn am Hals«, erläuterte sie gerade. »Wenn wir davon nicht genug haben, können wir nicht richtig wachsen und uns nicht so entwickeln, wie wir sollten. Dieser Zustand ist heutzutage zum Glück selten, denn man kann ihn behandeln. Aber früher kam das ziemlich häufig vor, besonders in bestimmten Teilen der Welt.«
»Kann nicht behaupten, dass ich je davon gehört hätte«, meinte Harry kopfschüttelnd.
»Oh, ganz bestimmt hast du davon gehört«, widersprach Evi. »Die politisch weniger korrekte Bezeichnung dafür ist Kretinismus. Ich glaube, Toms Freundin – nennen wir sie mal Ebba, das macht das Leben ein bisschen leichter – ist das, was man früher einen Kretin genannt hat.«
Harry rieb sich beide Schläfen und dachte kurz nach. »Also ist sie was? Ein Kind?«
»Nicht unbedingt«, antwortete Evi mit einem winzigen, katzengleichen Lächeln. »Menschen mit dieser Störung werden selten größer als eins fünfzig, also könnte eine Erwachsene durchaus viel jünger wirken. Und normalerweise haben sie die geistige Reife eines Kindes, würden kindliches Verhalten an den Tag legen. Brauchst du ein Paracetamol?«
»Wenn ich noch mehr von dem Zeug nehme, fange ich an zu klappern. Wodurch wird das verursacht?«, wollte Harry wissen. »Ist es genetisch bedingt?«
»In manchen Fällen schon«, meinte Evi. »Aber meistens sind die Ursachen umweltbedingt. Damit der Körper Thyroxin produzieren kann, brauchen wir Jod, das wir hauptsächlich aus der Nahrung beziehen. In den Zeiten, als die Menschen ihre eigenen Lebensmittel angebaut und sich von dem Vieh aus der Gegend ernährt haben, waren sie sehr viel anfälliger. Bei bestimmten Bodenbeschaffenheiten, vor allem in entlegenen Bergregionen wie den Alpen, herrscht Jodmangel. Wenn man also in einer Gegend gelebt hat, wo kein Jod im Boden vorhanden war, dann hat sich die Schilddrüse vergrößert, um so viel Jod wie möglich aufzunehmen. Daher kommt der Kropf am Hals.«
»Wir sind aber weit weg von den Alpen«, gab Harry zu bedenken.
»Teile von Derbyshire waren bis vor gar nicht langer Zeit auch sehr anfällig«, entgegnete Evi. »Der Derbyshire-Hals war ein bekanntes medizinisches Phänomen. Schau mal.«
Sie rief ein neues Fenster auf, und Harry sah das Bild einer Frau in der Kleidung des späten 19. Jahrhunderts vor sich. Eine gewaltige Schwellung an ihrem Hals drückte gegen ihren Kopf und zwang sie, nach oben zu schauen.
»Das ist ein Kropf«, erklärte Evi und zeigte auf die Schwellung. »Und so weit weg vom Peak District sind wir hier doch gar nicht, nicht wahr?«
»Das Mädchen, das Tom Angst gemacht hat, ist also eine Frau hier aus der Gegend, die an dieser Krankheit leidet? Ich kann’s nicht fassen, dass niemand sie erwähnt hat.«
»Das scheint wirklich seltsam«, pflichtete Evi ihm bei. »Aber die Fletchers sind noch sehr neu im Ort. Vielleicht wollten die Leute einfach diskret sein.«
Harry überlegte einen Moment lang. »Ich brauche Kaffee«, entschied er, stand auf und ging zum Waschbecken. Mit dem Wasserkessel in der Hand drehte er sich zu ihr um. »Und du sagst, man kann das behandeln?«
»Auf jeden Fall.« Evi nickte energisch. »Das ist es ja, was mich stutzig macht. Neugeborene werden heutzutage routinemäßig daraufhin untersucht. Wenn bei ihnen ein Thyroxinmangel
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