Bluternte: Thriller
abzunehmen.
»Sehr hübsch«, erwiderte sie.
»Zum ersten Mal hier?«
»Zum ersten und letzten.«
Ein eisernes Geländer war in die Mauer eingelassen worden, damit ältere Menschen, die weniger gut zu Fuß waren, die Stufen bewältigen konnten. Selbst mithilfe des Geländers hätte Evi Mühe, eine derart steile Treppe zu erklimmen. Vier Stufen. Ebenso gut könnten es hundert sein.
»Sind Sie sicher, dass Sie keine Gehirnerschütterung haben? Normalerweise sind die Leute nicht so unhöflich, wenn sie mir zum ersten Mal begegnen. Später ziemlich oft, aber nicht gleich am Anfang. Wie viele Finger halte ich hoch?«
Evis Kopf fuhr herum. Sie öffnete bereits den Mund, um ihm zu sagen … Er hielt beide Fäuste hoch; kein Finger war zu sehen. In gespieltem Schrecken fuhr er zurück. Sie hob den rechten Arm, um ihm die Faust genau ins Gesicht zu rammen, und zum Teufel mit den Konsequenzen, und …
»Wenn Sie lächeln, sind Sie viel hübscher.«
… und begriff, dass dies das Allerletzte auf der Welt war, das sie tun wollte.
»Sie sind sehr hübsch, wenn Sie nicht lächeln, verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag Frauen nur zufällig lieber, wenn sie lächeln. Ist so eine Eigenheit von mir.«
Sie wollte ihm gar keine knallen. Sie wollte etwas ganz anderes. Sogar hier, auf der Straße, wo alle Welt es sehen konnte …
»Halten Sie die Klappe«, brachte sie mühsam hervor.
Er zog in einer Reißverschlussbewegung zwei zusammengelegte Finger über die Lippen, eine alberne, kindliche Geste. Sein Mund war noch immer in die Breite gezogen. Sie schaute weg, ehe ihr eigenes Lächeln zu sehr … zu sehr wie seins werden konnte.
Wieder Schweigen. Auf der anderen Seite der Straße tauchte eine Katze auf. Sie setzte sich auf die oberste Stufe und fing an, sich zu putzen.
»Ich hab’ mir immer gewünscht, das auch zu können«, bemerkte er.
»Aah!« Warnend hob Evi einen Finger.
»’tschuldigung.«
Schweigen. Die Katze hob ein Hinterbein und begann, ihre Genitalien zu lecken. Die Bank, auf der sie saßen, begann zu beben. Es war hoffnungslos. Gleich würde sie loskichern wie ein Teenager. Sie wandte sich zu ihm um, weil sie dann wenigstens nicht mehr der Katze zusehen musste.
»Wohnen Sie hier?«, erkundigte sie sich.
Er schüttele den Kopf. »Nein, ich arbeite bloß hier. Ich wohne ein paar Kilometer den Hügel hinunter.«
Er hatte hellbraune Augen und dunkle Wimpern, was mit dem hellen Haar wirklich ziemlich gut aussah. War sein Haar wirklich rotblond? Wenn man sich ein bisschen Zeit nahm, um darüber nachzudenken, dann schien Rotblond eigentlich ein zu harsches Wort für eine Farbe zu sein, die im weichen Septemberlicht mehr aussah wie … wie … Honig?
Als sie zu Boden sah, erhaschte Evi einen Blick auf ihre Uhr. Die zehn Minuten waren um. Sie drehte den Arm so, dass das Zifferblatt nach unten schaute und sie es nicht mehr sehen konnte. »Wieso sind hier eigentlich zwei Kirchen?«, fragte sie.
»Die sind toll, nicht wahr? Wie vorher und nachher. Okay, machen Sie sich auf eine Geschichtsstunde gefasst. Damals, als die großen Klöster England regierten, hatte Heptonclough auch eins. 1193 wurde mit den Bauarbeiten begonnen. Die Kirche hinter uns wurde zuerst erbaut und später die Wohnquartiere und das Gehöft.«
Er drehte sich auf der Bank herum, so dass er auf das verfallene Bauwerk hinter ihnen blickte. Evi tat es ihm nach, obwohl ihr linkes Bein ziemlich heftig zu schmerzen begonnen hatte. »Die Residenz des Abtes steht noch immer«, fuhr er fort. »Ein wunderschönes altes Gebäude. Von hier aus kann man es nicht sehen, es liegt auf der anderen Seite der neuen Kirche. Jetzt wohnt dort eine Familie namens Renshaw.«
Evi dachte an den Geschichtsunterricht in der Schule zurück. »Dann war also Heinrich VIII. dafür verantwortlich, dass das Kloster verfallen ist?«, fragte sie.
Der Mann nickte. »Na, geholfen hat er auf jeden Fall nicht«, stimmte er zu. »Der letzte Abt von Heptonclough, Richard Paston, war an einer Rebellion gegen Heinrichs Kirchenpolitik beteiligt und wurde wegen Verrats vor Gericht gestellt.«
»Hingerichtet?«, wollte Evi wissen.
»Gar nicht weit von hier. Und die meisten seiner Mönche auch. Aber die Stadt gedieh weiter. Im 16. Jahrhundert war sie das Zentrum des Wollhandels in diesem Teil Englands. Es gab eine Tuchhalle, ein paar Banken, Gasthäuser, Geschäfte, eine Grundschule und schließlich eine neue Kirche, neben der alten erbaut, weil die Bürger beschlossen hatten, dass
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