Bluternte: Thriller
Vikar?«
Endlich vertrautes Terrain. »Ja«, antwortete er. »Ich heiße Harry. Reverend Laycock, wenn Sie förmlich sein wollen, das sind die meisten Leute nie. Muss wohl an den Shorts liegen. Und Sie sind …?«
»Hat Alice Ihnen von mir erzählt?«
»Alice?« Lag es an ihm? Hatte sein Gehirn einfach beschlossen, sich heute freizunehmen?
»Alice Fletcher. Die in dem neuen Haus wohnt.«
Allmählich dämmerte es ihm. »Sind Sie Gillian?«
Die junge Frau nickte.
»Sie hat Sie erwähnt. Mein aufrichtiges Beileid.«
Ihr Gesicht zog sich zusammen, wurde kleiner, ihre schmalen Lippen verschwanden fast. »Danke«, sagte sie, während ihr Blick von seinem Gesicht fortglitt, irgendwohin über seine linke Schulter hinweg.
»Wie kommen Sie zurecht?«, erkundigte sich Harry.
Gillian holte tief Luft, und ihre Augen öffneten sich weiter. Blöde Frage. Sie kam überhaupt nicht zurecht. Und jetzt würde sie ihn fragen, warum Gott ihr Kind zu sich genommen hatte. Von allen Kindern dieser Welt, warum ausgerechnet ihres? Gleich würde es so weit sein.
»Ich wollte gerade Tee machen«, sagte er rasch. »Ich habe einen Wasserkocher in der Sakristei. Möchten Sie auch welchen?« Gillian starrte ihn einen Augenblick lang an, als wäre Tee etwas, das außerhalb ihrer normalen Erlebniswelt lag, dann nickte sie. Er führte sie durch die Ruine der Klosterkirche und dann den Steinplattenweg zur St.-Barnabas-Kirche hinauf und versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, was Alice ihm erzählt hatte.
Gillian … Rogers, Roberts, das wusste er nicht mehr genau, hatte ihre Tochter bei einem Hausbrand verloren, vor drei Jahren. Sie verbrachte die Tage damit, auf dem Moor herumzustreifen und durch die alten Straßen des Ortes zu wandern, fast wie ein lebendiges Gespenst. Alice war ihr in der Klosterruine begegnet und hatte sie auf einen Kaffee zu sich nach Hause eingeladen. Genau so etwas würde Alice tun, etwas Freundliches, Impulsives und nicht eben ungeheuer Kluges. Gillian hatte die Einladung angenommen und war fast den ganzen Vormittag geblieben. Sie war halbherzig auf Alices Konversationsversuche eingegangen, hatte jedoch die meiste Zeit einfach nur den Kindern beim Spielen zugesehen.
Nach dem Herbstsonnenschein kam einem die Kirche kühl und feucht vor. »Machen Sie hier ganz allein sauber?«, fragte Gillian, als sie und Harry den Seitengang hinaufschritten.
»Gott sei Dank nicht«, antwortete er. »Die Diözese hat eine Reinigungsfirma beauftragt. Die sind gerade fertig geworden. Ich gehe bloß gerade die Schränke durch, finde heraus, wo alles aufbewahrt wird, und mache hier wieder Ordnung. Alice und die Kinder haben mir geholfen.«
Harry stieß die Tür zur Sakristei auf und ließ Gillian zuerst eintreten. Er würde ein paar Stühle für diesen Raum anschaffen müssen, vielleicht auch einen kleinen Tisch. Der Wasserkessel war noch warm, er hatte ihn ausgeschaltet, als er gehört hatte, wie die Ärztin ihr Pferd anschrie. Bis er Teebeutel und Becher aufgetrieben hatte, kochte das Wasser. Er goss heißes Wasser ein und spürte dabei Gillians wachsame Gegenwart dicht hinter sich. Dann tat er, ohne zu fragen, Milch und Zucker dazu. Sie hatte es eindeutig nötig. Alice hatte vorhin eine Riesenpackung Schokoladenkekse vorbeigebracht. Der Himmel segne sie.
Er hielt Gillian einen Becher hin. Sie griff danach, doch ihre kleine weiße Hand zitterte heftig. Narben zogen sich oberhalb der Handgelenke kreuz und quer über die Haut. Sie sah, dass er sie bemerkt hatte, und ihr Gesicht lief rot an. Harry zog die Hand zurück und reichte ihr stattdessen die Kekse.
»Setzen wir uns doch«, schlug er vor, bevor er zurück ins Kirchenschiff voranging. Er ließ sich auf der vordersten Bank eines der Chorstühle nieder. Sie nahm neben ihm Platz, und endlich wagte er es, ihr das heiße Getränk zu reichen. Dankbar nippte er an seinem Tee. Von so etwas bekam man Durst: Kirchen putzen, unfreundliche Psychiaterinnen retten und trauernden Gemeindemitgliedern Trost spenden. Wenn das heute so weiter ging, würde er sich noch vor Sonnenuntergang über den Abendmahlswein hermachen.
»Ich habe seit acht Tagen nichts mehr getrunken«, verkündete Gillian, und einen Moment wusste er nicht genau … natürlich, Alice hatte etwas davon gesagt, dass Gillian beim Arzt gewesen und an eine Selbsthilfegruppe für Alkoholiker verwiesen worden war. Und an eine Psychiaterin, die auf familiäre Probleme spezialisiert war. Bei der es sich selbstverständlich um jene
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