Bluternte: Thriller
weggeblieben ist.
»Geben Sie Pete die Schuld an Hayleys Tod?«, versuchte Evi es noch einmal, als klar wurde, dass Gillian nicht über ihren Stiefvater reden würde. Keine Antwort. »Sind Sie böse auf ihn, weil er vielleicht nicht so sehr getrauert hat wie Sie?«
Endlich blickte Gillian auf. »Hayleys Tod hat Pete den Rest gegeben«, sagte sie. »Er hat sie vergöttert. Danach konnte er mich nicht mehr ansehen, weil ich ihn an sie erinnert habe.«
»An Trauer zerbrechen Ehen oft«, meinte Evi. »Manchmal ist der Schmerz so groß, dass die Menschen nur weiterleben können, indem sie einen klaren Bruch vollziehen.«
»Glauben Sie, ich lerne jemals wieder jemanden kennen?«, fragte Gillian nach kurzem Schweigen.
»Sie meinen, einen Mann?«, fragte Evi überrascht. »Einen Freund?«
»Ja. Was glauben Sie? Ist es möglich, jemanden zu finden, für den ich etwas empfinde? Der sich vielleicht, Sie wissen schon, um mich kümmert?«
Hatte sie bereits jemanden kennengelernt? Das würde die gewaschenen Haare und die sauberen Kleider erklären, das Interesse an der Zukunft. Jemand von den Anonymen Alkoholikern?
»Ich halte das für durchaus wahrscheinlich«, antwortete Evi. »Sie sind noch jung, und Sie sind sehr hübsch. Aber für Beziehungen braucht man eine Menge emotionale Energie. Wir müssen uns darauf konzentrieren, dass Sie wieder stark werden.«
»Das nächste Mal würde ich mir jemanden suchen, der anders ist als Pete«, meinte Gillian. »Vielleicht jemand Älteren. Wie er aussieht, wäre mir nicht so wichtig. Solange er nur nett ist.«
Diese junge Frau war nicht auf der Suche, sie glaubte, den Betreffenden bereits gefunden zu haben.
»Nettsein ist eine gute Eigenschaft bei Männern«, pflichtete Evi ihr bei. »Was halten Sie denn so von den anderen Leuten bei den AA-Treffen?«
»Die sind okay. Finden Sie, es ist zu früh für mich, wenn ich jemanden kennengelernt hätte?«
»Haben Sie denn jemanden kennengelernt?«, fragte Evi.
Die junge Frau lief tatsächlich rot an. »Nein«, antwortete sie. »Vielleicht. Sie würden mich für verrückt halten, wenn ich’s Ihnen erzähle.«
»Wieso würde ich Sie für verrückt halten?«
»Na ja, es ist so, er ist so total nicht mein Typ. Er war einfach nur echt nett. Und dann, am nächsten Tag, da hat er mich besucht. Er ist fast zwei Stunden geblieben, hat sich einfach mit mir unterhalten. Da stimmte irgendwie die Chemie, wissen Sie, was ich meine?«
Trotz ihrer Vorbehalte begann Evi zu lächeln. »Ja«, sagte sie. »Das mit der Chemie, das kenne ich.«
Sämtliche Lehrbücher würden sagen, dass die junge Frau noch nicht für eine neue Beziehung bereit war, aber, hey, manchmal muss man die Dinge einfach nehmen, wie sie kommen. Und sie wusste selbst einiges darüber, was für einen Unterschied eine zufällige Begegnung in einem Leben machen konnte. Wie ganz plötzlich die Finsternis, die die Zukunft einer Frau war, einen Sonnenstrahl einlassen konnte.
»Aber, mein Gott, ich meine, er ist Vikar. Das ist so dermaßen nicht mein Ding.«
»Er ist was?«
»Er ist Vikar. Ist das zu fassen? Zum einen müsste ich aufhören zu fluchen. Und jede Woche in die Kirche. Ich weiß nicht recht, ob ich das hinkriege.«
Evis Lächeln begann allmählich zu schmerzen. Sie gestattete den Muskeln um ihren Mund, sich zu entspannen, und konzentrierte sich darauf, weiter ein interessiertes, freundliches Gesicht zu machen. »Sie haben einen Vikar kennengelernt?«, fragte sie.
»Ich weiß, ich weiß. Aber er hatte einfach was. Und er ist jung und hat ganz normale Klamotten an, und ehrlich gesagt, ich glaube, Sie kennen ihn, ich habe gesehen, wie Sie …«
Gillian plapperte immer weiter, und Evi hörte nicht mehr zu. Oh ja, er hatte in der Tat was.
»Wir müssen jetzt Schluss machen, Gillian«, sagte sie, obwohl laut der Uhr noch vier Minuten blieben. »Es freut mich sehr zu sehen, wie gut es Ihnen geht.«
Gillian verließ lächelnd das Zimmer. Vor ein paar Wochen hatte ihr Leben in Trümmern gelegen. Jetzt lächelte sie. Evi griff nach dem Telefon. Gab es irgendeine Möglichkeit? Sie sah keine. Sie wählte und dankte dem lieben Gott, an den sie nicht glaubte, als Harrys Anrufbeantworter sich meldete.
16
26. September
AAH - LAY - OH !
Der Schrei hallte die Straße herauf. Eine Männerstimme, laut und kraftvoll. Gleich darauf antworteten viele Stimmen.
Aah-lay-oh, aah-lay-oh, aah-lay-oh!
Stille. Joe sah seinen Bruder an, seine Augen waren so rund wie Untertassen. Tom
Weitere Kostenlose Bücher