Bluternte: Thriller
Seite sinken. Das schien ihm eine ungemein vertraute Geste zu sein, obgleich er sich nicht erinnern konnte, schon einmal gesehen zu haben, wie sie das tat. »Hat jemand Sie geärgert?«, wollte sie wissen.
Er sah sie an und war schwer versucht, ihr von seiner kleinen Unterhaltung mit Tobias zu erzählen, entschied sich dann jedoch dagegen. Warum auch ihr den Abend verderben? Sie sah fröhlicher aus, als er es bei ihr je erlebt hatte. Er würde im Laufe der Woche mit Gareth reden.
»Ich hatte heute Abend ein Date«, sagte er und überraschte sich damit selbst. »Sie hat abgesagt.«
Alices kleines Gesicht leuchtete auf. »Ein Date? Wie aufregend.«
Harry hob beide Hände. »Eben doch nicht, wie sich herausgestellt hat.«
»Das tut mir leid«, sagte Alice. »Hat sie Ihnen einen Grund genannt?«
»Sie hat mir nur auf den Anrufbeantworter gesprochen. Hat gesagt, bei ihr stapelt sich die Arbeit. Sie hofft, dass wir uns in ein paar Wochen mal treffen können, wenn es ruhiger wird. Klang nicht besonders hoffnungsvoll.«
»Das ist Pech«, meinte Alice nach einem Augenblick des Schweigens. »Wollen Sie noch was trinken?«
»Wenn ich noch was trinke, übernachte ich in der Sakristei«, wehrte Harry ab. »Aber wir sollten wieder zu den anderen zurückgehen. Kommen Sie.«
Harry und Alice standen auf und gingen zwischen den Apfelbäumen hindurch zum Haus zurück. Als sie sich den anderen Gästen näherten, bemerkte Harry hastige Bewegung. Jemand drängte sich durch die Menge.
Gleich darauf erschien Gareth Fletcher, der Tom fest an der Hand hielt.
»Wir können Joe und Millie nicht finden«, sagte er. »Wir haben überall gesucht. Sie sind verschwunden.«
Teil II –
Bluternte
18
Als Harry und Tom sich einen Weg durch den Saal bahnten, tauchte Sinclair Renshaw vor ihnen auf.
»Was ist passiert, Reverend?«, fragte er.
»Die beiden jüngsten Fletcher-Kinder werden vermisst«, antwortete Harry hastig.
»Das kleine Mädchen?«, unterbrach Sinclair ihn. Er sprach leise, trotz der Musik und des Lärms.
»Ja, und ihr Bruder. Die Eltern sind nach Hause gegangen, um nachzusehen, ob sie dort sind. Tom und ich wollen –«
»Augenblick.« Sinclair drehte sich um und ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Vater!«, rief er. Dann nahm er Tom am Arm und schob ihn zu dem alten Mann hinüber. Tom konnte hören, dass Harry ihnen folgte, doch als er einen raschen Blick nach hinten warf, sah er, dass dem Vikar das alles gar nicht gefiel. Man hatte Harry gesagt, er solle auf Tom aufpassen und sich draußen umsehen, und das wollte er auch tun. Das war auch das, was Tom tun wollte – nach Joe und Millie suchen und ganz nahe bei einem Erwachsenen bleiben, dem er trauen konnte.
»Vater.« Sie hatten die Tür erreicht, die auf die Gasse hinausführte. Draußen war es viel zu dunkel, um Joe und Millie ganz allein herumlaufen zu lassen. »Das jüngste Kind der Fletchers ist verschwunden«, berichtete Sinclair, noch immer mit leiser Stimme. »Das kleine Mädchen.«
»Und ihr Bruder«, ergänzte Harry beharrlich.
»Ja, ja«, knurrte Sinclair. »Vater, hol Jenny und Christiana und durchsucht das Haus.« Dann senkte er die Stimme noch mehr. »Schließ die Tür ab«, fügte er hinzu.
Tobias nickte augenblicklich und machte sich (ziemlich flink für einen so alten Mann) auf den Weg durch den Saal, dorthin, wo Christiana noch immer Strohhalme zusammendrehte. Sinclair wandte sich wieder an Harry.
»Wie lange ist sie … sind die beiden schon verschwunden? Wann und wo wurden sie zuletzt gesehen?«
Das wusste Harry natürlich nicht, also sah er Tom an. Tom wusste auch nicht viel, und es war schwer nachzudenken, während der größte Mann, den er jemals gesehen hatte, finster auf ihn herabblickte.
»Hier drinnen«, sagte er. »Ich habe …« Er verstummte. Er hatte seine Schwester und seinen Bruder im Auge behalten sollen, während sein Dad ihnen etwas zu trinken holte. Es war alles seine Schuld.
»Was?«, drängte Harry. »Tom, das ist wichtig. Was hast du gemacht?«
»Ich habe mich unter dem Tisch mit dem Essen versteckt«, sagte Tom. »Vor Jake Knowles.« Er sah zu Harry auf und hoffte, dass er verstehen würde. Jake und zwei seiner Kumpel waren aufgekreuzt und hatten nach ihm gesucht, seine Mum war nirgends zu sehen gewesen, und sein Dad war ganz am anderen Ende des Saals, fast schon im Garten. Tom war unter das große weiße Tischtuch getaucht und bis ans andere Ende des Tisches gekrochen. Als er seinen Dad erreicht hatte,
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