Bluternte: Thriller
wie die Figuren, die Joe manchmal aus Knete fabrizierte. Ihre Augen waren riesengroß und ihre Lippen voll, rot und feucht. Beinahe am allerschlimmsten war ihre Haut. Sie war so blass. Und sie hing lose an den Knochen, als sei sie ihr zu groß, und eigentlich sah sie überhaupt nicht aus wie Haut. Sie war wie das Zeug, das übrig bleibt, wenn Wachs von einer Kerze tropft und dann hart und ganz weiß und schrumpelig wird. Sie sah aus, als hätte sie jemand in geschmolzenes Kerzenwachs getaucht. Ihre Haut war jedoch gar nicht das Allerschlimmste. Das Schlimmste war die riesige Beule an ihrem Hals, die gegen ihr Gesicht drückte und den Ausschnitt ihres Kleides ganz schief zog. Während sie Tom durch die Windschutzscheibe hindurch anstarrte, schien sich die Beule fast von ganz allein zu bewegen, und plötzlich hatte er eine Vision vom Rest ihres Körpers unter dem Kleid: voller Beulen, weich wie Knetmasse und überall Adern, die sich auf wachsartiger Haut abzeichneten.
Er fand die Hupe und drückte mit aller Kraft darauf. Der Lärm machte ihm eine Heidenangst, doch er konnte einfach nicht loslassen. Dann war er draußen. Er wusste nicht, wie er das gemacht hatte, er wusste nur, dass er nicht mehr im Auto war. Die Auffahrt fühlte sich durch die Sohlen seiner Hausschuhe hindurch hart an, die Nacht war von Lauten der Qual erfüllt, und die Albtraumkreatur war zwischen ihm und der Haustür.
Er merkte, dass er schrie. Dann rannte er. Dann schrie er mit der Stimme seiner Mutter. Und mit der seines Vaters. Er brüllte: »Tom, Tom, wo steckst du?«, und sie jagte ihn, sie setzte ihm nach, und wegrennen, das war alles, was er tun konnte, weg, weg, wegrennen.
Und sich verstecken.
Alles war still. Kalt. Nass. Er hatte keine Ahnung, wo er war, doch er wusste, dass er sich irgendwo befand, wo es dunkel und feucht war. Er lag auf dem Boden, doch er wusste nicht, ob er hingefallen war oder ob ihm ganz einfach die Luft ausgegangen war. Tom keuchte, als würde er nie wieder genug Luft in seine Lunge saugen können. Irgendetwas Hartes drückte sich in seine Rippen, doch er wagte nicht sich zu rühren.
»Tom!«
Die Stimme seines Vaters. Er war ganz in der Nähe. Nur … stimmte das auch? War er das wirklich?
»Daaaddyyy.« Eine gedämpfte Stimme, leise und spottend, wie ein Kind, das Verstecken spielt. Eine Stimme, die sich genauso … o Gott … genauso anhörte wie …
»Tom, wo bist du?«, rief sein Dad.
Nein, nein, Dad, nein. Das bin ich doch gar nicht!
»Daaaddyyy.«
»Das ist wirklich nicht witzig, Tom. Komm sofort hierher.«
»Gareth, hast du ihn gefunden?« Die Stimme seiner Mutter, von irgendwo weiter weg. Es hörte sich an, als ob sie weinte. War sie das? Es klang wie sie, aber …
Schritte. Schwere Schritte, ganz nahe. Zu laut, um …
Tom war auf den Beinen. Er war auf dem Friedhof, und sein Dad war drei Meter entfernt. Er hatte ihn gesehen, er kam auf ihn zu. Und dann wurde Tom über den Kirchhof getragen, und plötzlich war seine Mum da, und sie waren im Haus, und er hörte wieder dieses grauenhafte Stöhnen. Er konnte das Gesicht seiner Mutter sehen, das mit ihm zu sprechen versuchte, aber das Stöhnen übertönte alles. Sie waren im Wohnzimmer, und sein Dad hatte ihn aufs Sofa gelegt, und seine Mum beugte sich über ihn, hielt ihn fest und sagte etwas zu ihm, doch er konnte sie nicht verstehen, weil die Geräusche in seinem Kopf zu laut waren. Dann fing sie an zu weinen, und Tom konnte Tränen über ihr Gesicht laufen sehen, aber er konnte sie nicht weinen hören, denn alles, was er hören konnte, was er jemals würde hören können, war dieses grässliche, grässliche Heulen.
Und dann begriff er, dass er es war, der da heulte.
»Tom, mein Engel, bitte hör auf zu weinen, bitte hör doch auf.«
Er hatte ja aufgehört. Seine Mum schien es bloß nicht gemerkt zu haben. Sie saß jetzt auch auf dem Sofa und hatte Tom auf ihren Schoß gezogen. Er war nicht viel kleiner als sie, und er saß nicht mehr auf ihren Knien, doch er war so froh, hier zu sein, ganz fest von ihren Armen umschlungen. Dann waren Schritte am Fuß der Treppe zu hören, und sein Dad erschien in der Tür.
»Alles in Ordnung«, sagte er leise zu Alice. »Die beiden schlafen noch.«
Gareth kam durchs Zimmer und kniete sich vor Tom auf den Teppich. Dann hob er die Hand und strich seinem Sohn über die Stirn.
»Was ist denn passiert, mein Großer?«, fragte sein Vater und streichelte Toms Kopf.
Natürlich erzählte er es ihnen. Warum auch
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