Bluternte: Thriller
gefunden hatten.«
»Und was ist damit passiert?«
»Die sterblichen Überreste sind der Familie übergeben worden«, antwortete Earnshaw. »Der Mutter, soweit ich mich erinnern kann.«
36
21. Oktober
»Was glaubst du, warum deine Eltern wollten, dass du zu mir kommst, Tom?«, fragte die Ärztin mit dem glatten dunklen Haar und den dichten schwarzen Wimpern. Evi sollte er sie nennen. Mit ihrem blassen, herzförmigen Gesicht und den großen blauen Augen sah sie aus wie eine von den Babuschka-Puppen seiner Schwester. Sie trug sogar dieselben Farben wie Millies Puppen: eine rote Bluse und einen violetten Schal.
Tom zuckte die Achseln. Evi schien nett zu sein, das war das Schlimmste, so auf eine Art und Weise nett, dass man ihr unwillkürlich vertrauen wollte. Ihr vertrauen, das war etwas, was er wirklich nicht tun konnte.
»Hat dir irgendetwas Sorgen gemacht?«, erkundigte sie sich. »Macht dir etwas Angst?«
Tom schüttelte den Kopf. Evi lächelte ihn an. Er wartete darauf, dass sie ihn noch etwas fragte. Sie tat es nicht, sondern sah ihn einfach immer weiter an und lächelte. Hinter ihrem Kopf war in einem großen Fenster ein so dunkler Himmel zu sehen, dass er an manchen Stellen fast schwarz war. Gleich würde es anfangen zu gießen.
»Wie kommst du in deiner neuen Schule zurecht?«, erkundigte sie sich.
»Okay.«
»Kannst du mir ein paar Namen von deinen neuen Freunden sagen?«
Sie hatte ihn reingelegt: Sie hatte ihm eine Frage gestellt, die er nicht mit ja, nein, okay oder einem Achselzucken beantworten konnte. Aber Freunde waren okay, über Freunde konnte er reden. Er konnte über Josh Cooper reden, das war okay.
»Sind irgendwelche von den Jungen in deiner Schule nicht deine Freunde?«, erkundigte sie sich, nachdem sie ein paar Minuten lang über Jungen in Toms Klasse geredet hatten.
»Jake Knowles«, antwortete Tom, ohne zu zögern. Jake Knowles, sein Erzfeind, der irgendwie herausgefunden hatte, dass Tom zu einer Spezial-Ärztin musste, und ihm jetzt schon seit Tagen das Leben damit noch schwerer machte. Laut Jake war Tom auf dem besten Weg ins Irrenhaus, wo sie einen fesselten und in eine Gummizelle sperrten und einem Elektroschocks durchs Gehirn jagten. Die Spezial-Ärztin würde merken, dass er verrückt war, und ihn fortschicken, und er würde seine Mum und seinen Dad nie wiedersehen. Und was das Schlimmste war, er würde nicht auf Millie aufpassen können. Er würde Joe nicht im Auge behalten können.
»Möchtest du dich mit mir darüber unterhalten, was vor einer Woche passiert ist, am Samstagabend? Als irgendetwas dir Angst gemacht hat und du auf den Friedhof gerannt bist?«
»Das war ein Traum«, sagte Tom. »Bloß ein böser Traum.«
37
Millie war die Stufen von der Hintertür in den Garten hinuntergeklettert. Sie richtete sich auf und sah sich gründlich um. Als ihr Blick die Eibe fand, leuchtete ihr kleines Gesicht auf. Sie tappte darauf zu.
»Millie!« Tom war in der Hintertür aufgetaucht. »Millie, wo willst du hin?« Er sprang die kleine Treppe hinunter und war mit drei Schritten neben seiner Schwester. Dann bückte er sich und hob sie hoch.
»Millie soll nicht allein hier draußen sein«, sagte er, als sie anfing zu zappeln, und trug sie zurück zur Hintertür.
Millie schaute sich nach der Eibe um, als sie ins Haus getragen wurde und die Tür sich fest hinter den beiden Kindern schloss. Sie durfte nicht mehr allein sein, nicht einen Augenblick.
38
23. Oktober
»Schizophrenie ist ziemlich selten«, erklärte Evi. »Sie tritt nur bei etwa einem Prozent der Gesamtbevölkerung auf, und nur bei sehr wenigen von diesen Fällen zeigen sich vor dem zehnten Lebensjahr irgendwelche Symptome. Und was noch wichtiger ist, weder in Ihrer Familie noch in der Ihres Mannes gibt es psychische Erkrankungen.«
Dies war Evis erster Einzeltermin mit Alice Fletcher. Er fand im großen, farbenfrohen Wohnzimmer der Familie statt. Die Jungen, die sie bereits beide einzeln kennengelernt hatte, waren in der Schule. Millie schlief oben. Es sah ganz so aus, als würde dieses Gespräch etwas anders verlaufen als sonst. Von Anfang an hatte Alice fast wild entschlossen gewirkt, die Psychiaterin ihres Sohnes für sich einzunehmen. Sie hatte persönliches Interesse an Evi gezeigt, was Patienten, die normalerweise völlig auf sich fixiert waren, nur selten taten. Sie hatte versucht, sie zum Lachen zu bringen, und es ein paar Mal sogar geschafft. Und doch war das alles so eindeutig bloß eine
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