Bluternte: Thriller
neunzig und fast völlig ans Bett gefesselt. Danach hatten ihre Tochter und ihr Mann darauf bestanden, dass er mit ihnen zu Abend aß. Als er aufgebrochen war, war es fast neun Uhr gewesen, und er musste noch die Kirchenbücher holen.
Seine Füße hatten eben erst die glatten Steine des Kirchweges berührt, als ihm klar wurde, dass irgendetwas nicht stimmte. Harry hatte sich nie für übermäßig sensibel gehalten, dieses Gefühl jedoch konnte er beim besten Willen nicht ignorieren. Er wusste, dass er sich zu der Kirchenruine umdrehen musste. Und er war sich wirklich nicht sicher, ob er das über sich bringen würde.
Er hatte sich umgedreht. Er schaute hin. Nur glaubte er nicht, was er sah.
Die uralte Ruine der Abteikirche war noch da. Die gewaltigen Bögen ragten noch immer empor, streckten sich in den violetten Himmel. Der Turm, hoch und abweisend, warf seinen Schatten über den Boden. Alles war noch so wie an dem Tag, als er hier angekommen war. Weitgehend so, wie es seit etlichen hundert Jahren gewesen war. Nur die Gestalten waren neu. Menschen saßen in Fensteröffnungen, lehnten an Säulen, lagen lang ausgestreckt auf den Steinbögen, hatten sich in jede nur erdenkliche Lücke im Mauerwerk gequetscht. Still wie Statuen saßen, standen, lehnten und lagen sie da. Mit grinsenden Mündern und starrenden Augen umringten sie ihn. Beobachteten ihn.
40
29. Oktober
Die Beisetzung von Lucy Eloise Pickup, einziges Kind von Michael Pickup und Jennifer Pickup, geb. Renshaw, war der letzte Eintrag im Beerdigungsregister. Harry blätterte zum Anfang zurück. Der erste Eintrag dokumentierte die Bestattung von Joshua Aspin im Jahr 1897. Ein Kirchenregister musste geschlossen und ins Archiv der Diözese gebracht werden, wenn der älteste Eintrag mehr als 150 Jahre zurücklag. Bei diesem hier war es noch nicht so weit. Gerade wollte er das Buch zuklappen, als ihm abermals der Name Renshaw auffiel. Sophie Renshaw war 1908 gestorben, mit achtzehn Jahren. Die Worte Eine unschuldige Christenseele waren nach den üblichen Angaben zu der Toten angefügt worden. Harry schaute auf seine Uhr. Es war elf.
Er blätterte die Seiten um und erblickte Namen, die er kannte. Renshaw, etliche Male, Knowles und Grimes, mehr als einmal. Da war es wieder, auf der Hälfte der dritten Seite. Charles Perkins, fünfzehn Jahre alt, begraben am 7. September 1932. Eine unschuldige Christenseele. Abermals sah er auf die Uhr. Drei Minuten nach elf. Harry lehnte sich mitsamt seinem Stuhl zurück und ließ den Blick durch den Raum wandern. Keine feuchten Laufsocken auf der Heizung, keine Teebeutel auf der Abtropfplatte des Waschbeckens.
Ein plötzliches Geräusch aus dem Kirchenschiff ließ ihn zusammenfahren und beinahe das Gleichgewicht verlieren. Er kippte den Stuhl nach vorn, bis alle vier Beine fest auf dem Boden standen. In der Kirche konnte niemand sein. Das Gebäude war abgeschlossen gewesen, als er gekommen war. Er hatte nur eine einzige Tür aufgeschlossen, die zur Sakristei, und die war keine drei Meter entfernt. Niemand hätte hereinkommen können, ohne dass er ihn gesehen hätte. Und doch war das, was er eben gehört hatte, zu laut für ein zufälliges Knarren alter Balken gewesen. Es hatte sich angehört wie ein … metallisches Scharren. Er stand auf, ging zur Tür, die zum Kirchenschiff führte, und öffnete sie.
Natürlich war die Kirche leer, er hatte auch nichts anderes erwartet. Sie fühlte sich nur nicht leer an. Harry tappte rückwärts wieder auf die Sakristei zu, während sein Blick durch den Altarraum huschte, nach Bewegungen suchte. Er lauschte angespannt. Fast war es eine Erleichterung, die Tür zu schließen. Er konnte es ruhig zugeben, er mochte diese Kirche einfach nicht. Sie hatte irgendetwas an sich, das ihn beunruhigte.
Das dir Angst macht, meinst du wohl. Diese Kirche macht dir Angst.
Wieder schaute er auf die Uhr. Es war zehn nach elf, und sein Besuch kam unbestreitbar zu spät. Könnte er draußen warten? Nicht ohne wie ein absoluter Trottel auszusehen. Er griff nach seinem Handy. Keine Nachrichten.
Evi hielt hinter Harrys Wagen. Dann benutzte sie ihren Gehstock beim Aussteigen als Hebel. Es war weit bis zur Sakristeitür, und sie sollte wohl besser den Rollstuhl nehmen. Den Stock konnte sie zusammenklappen und ihn an der Rückenlehne befestigen, die Aktentasche würde sie auf den Schoß nehmen, und binnen weniger Sekunden würde sie über diese glatten alten Steinplatten rollen. Schneller, als viele Leute
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