Blutfehde
Straße führte durch waldähnliche Pflanzungen und vorbei an Skulpturen.
»Walnut oder Magnolia?«, fragte Mike, als sich die Straße teilte.
»Folgen Sie der Walnut Avenue. Wissen Sie, Miss Cooper, die Landschaftsarchitekten haben die Bäume nicht nur zu Dekorationszwecken, sondern auch wegen ihrer symbolischen Bedeutung gepflanzt. Fast jeder Friedhofsabschnitt ist nach einer Baumart benannt«, sagte Silbey. »Eichen sind ja bekanntlich ein Symbol für ewige Treue. Im Ersten Buch der Könige sagt der Prophet Elia, er würde am liebsten unter einem Wacholderbaum sterben. Aufgepasst bei dem Pfeil, Detective Chapman. Nicht Clover.«
Wir fuhren immer tiefer in den Friedhof hinein, dessen schmale Straßen von blühenden Pflanzen und Büschen gesäumt waren. Steinbrücken spannten sich über kleine Teiche, und auf den Hügeln, den teuersten Grundstücken mit der besten Aussicht, thronten riesige Familienmausoleen im Stil dorischer Tempel.
»Kennen Sie sich in der griechischen Mythologie aus?«, fuhr Silbey fort. »Apollo verwandelte die Leiche seines besten Freundes in eine Zypresse. Zypressen werden häufig als Grabwachen gepflanzt. Das alles geht auf die romantische Philosophie und Gestaltungskunst des neunzehnten Jahrhunderts zurück.«
»Romantik? Auf einem Friedhof?«, sagte Mike. »Da sucht man aber am falschen Ort nach Liebe.«
»Biegen Sie hier nach rechts ab.«
Wir waren bisher höchstens zehn Personen begegnet: vereinzelten Besuchern, die zu Fuß unterwegs waren, und einigen Gärtnern, die sich um die Grabsteine und Blumenbeete kümmerten. Die dicken grauen Wolken, die schnell über den Himmel zogen, warfen Schatten auf die hohen Grabdenkmäler. Je weiter wir uns von der Stadt entfernten, desto gespenstischer wirkte die Stille in dieser idyllischen Umgebung.
Mike fuhr langsamer. Er blickte zu einem der größeren Grabdenkmäler, einem girlandenverzierten Sarkophag unter einem toskanischen Baldachin, der auf einem Dutzend Säulen ruhte und von hohen Kiefern umgeben war. »Wie reich muss man sein, um hier einen Platz zu ergattern? Manche von diesen Dingern sehen aus wie kleine Paläste.«
»Da haben Sie schon Recht, Detective Chapman. Auf unserem Friedhof liegen Mitglieder der Familien Whitney, Woolworth und Vanderbilt begraben.« Silbey steckte seinen Kopf wieder zwischen uns hindurch und fuhr mit neuer Energie fort. »Zu seiner Blütezeit war der Friedhof ein ziemlich elitärer Ort. Er beherbergt die Gräber von Irving Berlin und Duke Ellington, Herman Melville und Joseph Pulitzer. Natürlich auch von Bürgermeister La Guardia. Und von einigen unserer berühmten Damen wie beispielsweise Elizabeth Cady Stanton und Nellie Bly.«
»Und wenn sie noch so viel Geld für diese Gedenkstätten ausgegeben haben, es ändert doch nichts daran, dass sie tot sind«, sagte Mike.
»Natürlich nicht. Diese Monumente erzählen nur ihre Geschichte, Sir.« Silbey lehnte sich zurück. »Dort ist Primrose, gleich hinter dem Stoppschild. Sie können hier ranfahren und parken.«
»Was ist das? Das Arbeiterviertel?«
Der vor uns liegende, flache Abschnitt war weitaus weniger beeindruckend als die hügelige Parklandschaft. Statt grandioser Grabmonumente gab es hier nur kleine, dicht an dicht gesetzte Grabsteine, und anstelle der eleganten Bepflanzungen, die wir unterwegs gesehen hatten, gab es hier nur vereinzelt ein paar hohe, alte Bäume, die Schatten spendeten.
»In diesem Abschnitt befinden sich die bescheideneren Gräber. Der Familienname des Mädchens lautet Hassett, richtig?« Silbey stieg aus und blickte in seine Unterlagen. »Sieht so aus, als hätte die Familie den Platz vor ungefähr fünfzig Jahren gekauft. Die Lage ist natürlich nicht mit dem Gräberfeld der Reichen und Berühmten vergleichbar, aber auf unserem Friedhof sind auch viele einfache Leute, so wie diese Hassetts, begraben.«
Ich stieg aus dem Auto und stellte mich neben Mike.
»Die Totengräber kommen hierher?«, fragte er.
Silbey sah auf seine Uhr. »Es ist kurz vor neun. Sie müssten jeden Augenblick hier sein. Erwarten Sie sonst noch jemanden?«
»Einen Kombi von der Rechtsmedizin, der die Leiche mitnehmen wird«, sagte Mike. »Und vielleicht ein paar Detectives von der Staatsanwaltschaft der Bronx. Wo ist sie?«
Silbey überquerte die Straße. »Dort, in der vierten Reihe. G 112. Es ist nur ein kleiner Grabstein.«
Mike ging über die engen Wege zu dem flachen Stein mit der Aufschrift Rebecca Hassett und kniete sich hin. Ich beobachtete
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