Blutfehde
mir.«
»Teddy O’Malley hält sein unterirdisches Reich für eine Nekropolis«, sagte Mike. »Aber das hier nenne ich wirklich eine Totenstadt.«
Wir hatten vor dem hohen schmiedeeisernen Tor des Woodlawn-Friedhofs geparkt, einer eleganten Anlage in der Bronx, einhundertsechzig Hektar groß, die den New Yorkern seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg als letzte Ruhestätte diente.
Evan Silbey, der Begräbniskoordinator, der uns zu Rebecca Hassetts Grab bringen sollte und uns erwartet hatte, rutschte auf die Rückbank von Mikes Dienstwagen. »Das Wort Friedhof, Ort des Friedens, ist beruhigender als das Wort Tod, Mr Chapman.«
»Der tiefe Schlaf. Raymond Chandler möge in Frieden ruhen.«
»Friedhöfe sind, historisch gesehen, ein relativ junges Konzept«, fuhr Silbey fort. »Der Nekropolisstil war hauptsächlich durch die Architektur geprägt, man schuf Grabdenkmäler, die jede Achtung vor der Natur missen ließen. Die Römer bestatteten ihre Toten entlang von Ausfallstraßen. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Via Appia.«
Mike ging um das Auto herum zur Fahrertür und stieg ein.
»Im Mittelalter war es üblich, die Toten auf dem Kirchhof, mitten in der Stadt, zu begraben.« Der schmächtige, blasse Mann mit Nickelbrille sprach in einem absolut monotonen Tonfall. »Aber in den meisten Städten wurde irgendwann der Platz knapp. Spätestens um 1800 wünschten sich viele Stadtbewohner ländliche Bestattungsorte, Anlagen, die zur Meditation und Kontemplation einluden und somit auch als öffentliche Parks genutzt werden konnten.« Silbey reichte Mike einen Übersichtsplan des Friedhofs.
Mike faltete den riesigen Plan auseinander. »Es gibt hier ein kilometerlanges Straßennetz, richtig?«
»In der Tat. Und mehr als dreihunderttausend Einwohner. Es ist ein ziemlich großes Friedhofsareal mitten in der Stadt, obwohl das hier alles Farmland war, als man die Anlage entwarf. Kennen Sie Mount Auburn?«
»In Cambridge, Massachusetts?«, fragte ich.
»Ja. Der erste geplante Landfriedhof in den Vereinigten Staaten. Der Hintergedanke war, durch die Bäume des angrenzenden Arboretums die Luft zu reinigen und dadurch für eine viel gesündere Begräbnisstätte zu sorgen. Green-Wood in Brooklyn wurde als nächster Friedhof nach diesem Vorbild angelegt. Er entwickelte sich sogar zu einer der ersten New Yorker Touristenattraktionen.«
»Wohin soll ich fahren?«, fragte Mike.
Silbey beugte sich vor und zeigte uns auf der Karte unseren Standpunkt, im äußersten Nordosten des riesigen Parks. »Wir sind hier, an der Ecke 2.33. Straße Ost. Der Friedhof erstreckt sich bis zur Gun Hill Road.«
»George Washingtons Terrain.«
»Was?«, fragte ich.
»Siebzehnhundertsechsundsiebzig. Washington befand sich auf dem Rückzug von Westchester, um den britischen Truppen in der Schlacht von White Plains, wie sie später genannt wurde, Paroli zu bieten. Er baute eine Redoute, um die britischen Verfolgertruppen aufzuhalten. Deshalb heißt es auch Gun Hill - die Redoute beherrschte das Flusstal des Bronx River und die Boston Road.«
»Ich bin beeindruckt, Mr Chapman«, sagte Silbey. »Im Westen wird der Friedhof von der Jerome Avenue begrenzt. Wissen Sie auch, wonach die benannt ist?«
Mike verneinte.
»Nach einem Kapitalisten, keinem General. Leonard Jerome. Sein Enkel hieß Winston Churchill.« Silbey lehnte sich vor und steckte seinen Kopf zwischen Mike und mich. »Wussten Sie eigentlich, Miss Cooper, dass Frauen in den meisten Friedhöfen keinen Zutritt hatten, sogar noch nach der Eröffnung des Woodlawn-Friedhofs?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Als man den Green-Wood-Friedhof baute, da gab es die Brooklyn Bridge noch nicht. Angesichts des Verkehrs in Manhattan und der kleinen, wackeligen Fähren nach Brooklyn hielt man den Weg für das weibliche Geschlecht für zu beschwerlich. In unserem Friedhof hingegen, der viel zugänglicher war, waren Frauen von Anfang an willkommen. Wir fahren zur Primrose Avenue, Detective Chapman.« Silbey deutete auf einen Abschnitt auf der Karte. »Bleiben Sie auf der Mittelspur, wir nehmen diese Hauptstraße da.«
Mike fuhr langsam. Vor uns und rechts von uns erstreckte sich nach Westen eine sanfte Hügellandschaft. Zu unserer Linken ratterte gerade ein Zug der Metro-North-Linie auf den angrenzenden Gleisen vorbei und übertönte die Verkehrs- und Autogeräusche der östlich gelegenen Straße.
Eine Minute später hatten wir den Lärm hinter uns gelassen. Die leicht ansteigende
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