Blutfeuer
missverstanden. Doch bevor er eine
weitere Frage formulieren konnte, machte Oma Kleinhenz mit ihrer Verlautbarung
schon weiter.
»Das Essen ist auch gleich fertig, Frau Kehlmann«, fuhr sie freudig
fort und schaute Haderlein dabei tief in die Augen. »Ich weiß, es ist gerade
Währungsreform, aber ich hab was organisiert. Wir sind doch vom Lande. Kommt
her, Kinder!«, rief sie laut zur gegenüberliegenden Wand, und alle im Raum
drehten sich um. Nichts und niemand war dort zu sehen. »Das macht ja nichts,
dass das Benzin rationiert ist, Alwin«, sprach sie weiter auf Haderlein ein,
dem es langsam dämmerte, was hier los war. »Allzeit bereit!«, rief Oma
Kleinhenz laut in die versammelte Runde. »Und jetzt holt mir den Braten aus der
Röhre.« Damit deutete sie mit einer schwungvollen Geste auf Riemenschneider.
»Schnell, das Besteck, bevor die Russen kommen. Die klauen sogar die
Kartoffeln! Aber für uns wird es schon reichen. Wissen Sie«, sie sah den
ratlosen Haderlein tief an, »wissen Sie, es kommen ja auch immer weniger aus
der Ewigkeit zurück.« Sie blieb noch einen Moment in aufrechter Haltung auf dem
Bett sitzen, dann sackte sie von einem Moment auf den anderen in sich zusammen
und summte monoton und leise eine Melodie vor sich hin. Haderlein blickte Dr.
Waldmüller ratlos an, während der Braten Riemenschneider indisponiert so
weit nach draußen schlich, wie es die Leine zuließ.
»Das ist so, Herr Haderlein«, versuchte Dr. Waldmüller zu erklären,
»Frau Kleinhenz leidet unter schwerer Demenz. Wie übrigens alle Patienten hier
auf dieser Station. Da ist eine kontrollierte Kommunikation mit ihnen nicht
mehr möglich, Herr Kriminalhauptkommissar. Selbst wenn Frau Kleinhenz etwas von
den Vorkommnissen dieser Nacht mitbekommen hat, wird sie sich mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr daran erinnern können. Und wenn doch,
äußert sie sich dazu garantiert genau in dem Moment, in dem niemand im Zimmer
ist. Außerdem werden Sie den Unterschied zu ihren sonstigen Erzählungen
schwerlich feststellen können.«
Haderlein nickte enttäuscht. Es wäre auch zu schön gewesen. Dann
musste er die Sache eben konventionell angehen. »Sagen Sie, Herr Doktor, warum
hat Frau Kleinhenz eigentlich überlebt? In ihrem Zimmer steht doch auch eine
von diesen mysteriösen Dosen, sie müsste doch genauso tot sein wie die anderen,
oder etwa nicht?«
»Das kann ich erklären«, mischte sich nun Ruckdeschl in die
Unterhaltung ein, die er bis hierhin schweigend verfolgt hatte. »Die gute Frau
hat auf die Dose gepinkelt. Der Urin hat wohl den elektrischen Mechanismus
außer Kraft gesetzt.«
Haderlein war erschüttert. »Draufgepinkelt? Warum hat sie denn das
getan, um Himmels willen?«
»Vielleicht dachte sie, es sei ein Lagerfeuer oder etwas Ähnliches
aus ihrer Jugendzeit. Demenzkranke leben gern in der Welt ihrer Kindheit. Nun,
aber das kann Ihnen niemand auf dieser Welt mit letzter Sicherheit erklären.
Und Frau Kleinhenz wohl am allerwenigsten«, sagte Waldmüller mit
entschuldigendem Gesichtsausdruck.
»Was auch immer ihr in diesem Moment durch den Kopf gegangen ist und
sie bewogen hat, das zu tun, es hat ihr das Leben gerettet.« Haderlein seufzte.
»Aber uns wird es nicht viel helfen«, meinte Huppendorfer. »Wir
haben eine Zeugin mit der Gerichtstauglichkeit von nem Kanarienvogel.«
»Also bitte, Huppendorfer!«, empörte sich Ruckdeschl. »Ein bisschen
mehr Respekt vor dem Alter. Irgendwann werden Sie womöglich auch mal in so
einem Bett liegen und dummes Zeug faseln.« Strafend erhob er den Zeigefinger
wie ein Dorfschullehrer.
Dann drehte sich Haderlein um, weil ihm jemand auf die Schulter
tippte.
»Kommen Sie mal mit. Ich muss Ihnen noch etwas Wichtiges zeigen«,
sagte Ruckdeschl, und Haderlein sah sofort, was er meinte. Wenn man durch die
geöffnete Zimmertür auf die gegenüberliegende Wand im Flur hinausschaute,
konnte man die gesprayte Schrift in neongrüner Leuchtfarbe nicht übersehen. Auf
beigem Wandputz stand dort groß und deutlich »RB«.
Das Graffiti machte die Sachlage noch undurchsichtiger, überlegte
Haderlein. Wo war der Zusammenhang von diesem merkwürdigen Gekrakel zu den vier
toten, demenzkranken Rentnern? Er wandte sich erneut an Dr. Waldmüller. »Warum
ist die Abteilung eigentlich mit einer solch massiven Absicherung an Türen und
Fenstern ausgestattet? Dafür muss es doch einen Grund geben«, erkundigte sich
Haderlein nachdenklich.
»Nun, genau genommen wurde in der
Weitere Kostenlose Bücher