Blutfeuer
tauchten die Berggipfel in
eine diffuse Dunkelheit. Der Wind heulte, und die Fensterläden ächzten in ihren
Scharnieren. Mit aller Kraft zerrte der Sturm an der Hütte, biss sich aber
vorläufig die Zähne an ihr aus. Außer ein paar Zaunlatten und Wäscheständern
vor der Hütte konnte er nichts finden, was er losreißen und wegschleudern
konnte. Die Bergzuflucht war schweres Wetter gewohnt und trotzte den
Naturgewalten, die sie von ihrem Standort wegzubewegen versuchten.
Drinnen war man weniger zuversichtlich. Selbst der Hüttenwirt, der
das Haus seit siebenundzwanzig Jahren führte, hatte so ein Unwetter noch nicht
erlebt. Das Gebälk stöhnte permanent, und in der Stube musste man die Stimme
erheben, um sein eigenes Wort verstehen zu können. Sigismund Ludwig saß
kreidebleich am Kopfende des Tisches, und keiner wusste, wie man ihm helfen
konnte. Als Ronald Wolf mit seinen Aufmunterungsversuchen nicht weiterkam,
wechselte er die Taktik und versuchte, seinem Freund Alkohol einzuflößen. Doch
Sigismund Ludwig brachte in seiner Stimmung überhaupt nichts hinunter und ein
Bier schon gar nicht. In ihm tobte die blanke Panik. Das Entsetzen ob des
tobenden Sturms war ihm ins Gesicht geschrieben.
Dann versuchte es Ronald Wolf mit seinem letzten Mittel. Meistens
reagierte sein Freund auf Sticheleien mit wütenden Widerworten, was in dieser
Situation vielleicht helfen konnte, ihn aus seiner Lethargie zu reißen. »Du, jetzt
langt’s mer fei!«, gab Ronald Wolf den Genervten. »Nur dass des amal klar is,
wenn du dich etzert net zamreißen tust, dann war des die letzte Dour, die mir
zwaa zam gemacht ham, du Pfeife. Du bist ja dermaßen ein Jammerlappen, Mensch,
nä! Hopp, etzert drinke mer erscht amal an Schnaps!« Wenn Ronald Wolf
beabsichtigt hatte, damit die Schockstarre seines Freundes zu durchbrechen,
hatte er sein Ziel erreicht. Allerdings auf völlig andere Art und Weise, als er
sich es vorgestellt hatte.
Sigismund Ludwig reagierte nicht mit Ärger oder Wut. Seiner
verängstigten und verstörten Seele war nach etwas ganz anderem zumute. Der
Lehrer wurde noch eine Spur bleicher und sprang auf. Seine schütteren schwarzen
Locken standen von seinem Kopf wie eine Sonnenkorona nach allen Seiten ab.
»Ich muss hier raus«, krächzte er mit heiserer Stimme, und noch ehe
ihn jemand aufhalten konnte, hetzte er zur schweren Eingangstür der Hütte und
machte sich an ihren eisernen Riegeln zu schaffen.
»Sigi, nicht!«, rief Frank Jessentaler entsetzt und rannte ihm
hinterher. Doch er kam zu spät. Der verstörte Sigismund Ludwig hatte gerade den
letzten Riegel aufgerissen, öffnete die Tür und stürzte hinaus in die
sturmgepeitschte Nacht.
*
Anopheles die Siebte hatte den Rüssel voll. Tagelanges Karusselfliegen
und immer niedrigere Temperaturen hatten ihr die Lust am Reisen vergällt. Ihr
war schwindlig, sie hatte Hunger, und ihr war arschkalt. Sie musste jetzt
dringend rasten und etwas Trinkbares finden, ansonsten war es bald mit ihrem
Dasein auf dem Erdenrund vorbei.
Diese und ähnliche Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf, als sie
plötzlich schemenhaft ein Gebäude in der Wolke vor sich auftauchen sah.
Verzweifelt versuchte sie mit ihren kleinen Flügeln eine Richtungsänderung
vorzunehmen, doch das war gar nicht nötig, denn »Luca« trieb sie direkt auf das
Haus zu. Plötzlich tat sich in dem dunklen Schattenumriss ein hell erleuchtetes
Rechteck auf, und Anopheles die Siebte ergriff ihre Chance. Sie spürte etwas
Weiches, Warmes und klammerte sich mit aller Kraft daran fest. Es fühlte sich
so gut an! Ohne nachzudenken stieß sie ihren Rüssel tief in das weiche Etwas.
Blut. Endlich der so dringend benötigte Stoff. Sie nahm ein paar tiefe, lange
Züge, dann griff »Luca« wieder mit seinen windigen Fingern nach ihr und riss
sie von ihrem so sehnsüchtig gesuchten Wirt fort. Doch Anopheles hatte erst
einmal genug. Sie hatte sich zwar nicht den Bauch vollschlagen können, aber es
würde bis zum Ende dieses Sturms genügen. Zufrieden ließ sie sich in die Tiefen
des Unwetters zurückfallen.
*
Frank Jessentaler griff zu, zog den schluchzenden Sigismund mit
aller Kraft zurück in die Hütte und verriegelte mühsam die Tür. Schwer atmend
betrachtete er das Häufchen Elend, das da vor ihm auf dem Boden saß. Die
anderen standen um sie herum und schwiegen.
Ronald Wolf packte seinen am Boden zerstörten Freund: »Komm, Alter,
vergiss den ganzen Scheiß. Wir geh’n jetzt aufs Lager, und du musst dir auch
keine
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