Blutfeuer
Gruppe am Tisch, während draußen bereits der Wind an Heftigkeit
zunahm.
Sein lädierter Freund Ronald Wolf versuchte, ihn aufzuheitern, was
ihm aber nicht gelingen wollte. So widmeten sich erst einmal alle ihrem
Abendessen, welches im Wesentlichen aus Schinkennudeln und mehr oder weniger
Bier bestand. Nur Sigismund Ludwig konsumierte weder das eine noch das andere.
Er war damit beschäftigt zu hoffen, dass der Sturm schnell an ihm vorüberzog.
Unter dem Tisch krampften sich seine Hände um ein Tischbein, während vor der
Hütte bei einer sich verdunkelnden Sonne der Wind immer mehr an Fahrt aufnahm.
*
Der Versammlungsraum der Gemeinde Mürsbach war nüchtern im
Gelsenkirchener Barock, nackter Beton aus den siebziger Jahren, gehalten und
mit den Konterfeis der Bürgermeister vergangener Jahre geschmückt. In der Regel
fand sich der Gemeinderat hier zusammen, um seine Beschlüsse auszufechten. Die
jetzige Situation stellte sich allerdings so dar, dass die Mitglieder des
Gemeinderates etwas verunsichert an dem einen Ende des Tisches versammelt
waren, während am anderen, etwa fünf Meter entfernt, Staatssekretärin Monika
Schlagbauer saß, einen Eisbeutel auf den Hin- terkopf gepresst, der von ihrem
Chauffeur an Ort und Stelle gehalten wurde. Bürgermeister Feiler neben ihr
entschuldigte sich in unterwürfiger Haltung in einem fort für die Vorkommnisse,
und Dr. Torschuster, seines Zeichens Tierarzt, tastete den Kopf der Politikerin
ab. Im Raum begann sich der unangenehme Geruch nach Kühen auszubreiten.
»Also, das ist nur eine leichte Gehirnerschütterung«, stellte der
Tierarzt eine professionelle Diagnose, als er die kurze Untersuchung
abgeschlossen hatte. »Wenn Sie eine von meinen Kühen wären, würde ich sagen,
Sie geben morgen wieder Milch«, lachte er und schlug der Staatssekretärin so
aufmunternd auf den Rücken, dass ihr der Eisbeutel ins Gesicht rutschte.
»Sehen Sie, Frau Schlagbauer, alles nur halb so wild, hahaha!«,
beeilte sich Kuno Feiler hinterherzuschieben, während die Staatssekretärin
ihren Blick auf eine Unebenheit der Tischplatte geheftet hatte und sich optisch
an diesem Punkt festzuklammern versuchte.
»Ich will hier weg«, brachte sie halblaut zustande.
»Nun, das wird so schnell leider nicht möglich sein«, erklärte ihr
der Chauffeur. »Das Fahrzeug ist irreparabel beschädigt, und der hiesige
Landmaschinentechniker von der BayWa hat nur Ersatzteile von Deutz, Fendt und
Unimog vorrätig, aber nicht von BMW .
Die muss er erst bestellen. Wird wohl mindestens einen Tag in Anspruch nehmen.«
Monika Schlagbauer sah ihn entsetzt an.
»Außerdem brauchen Sie jetzt erst mal etwas Ruhe«, meinte der
Tierarzt Dr. Torschuster fürsorglich.
»Na, das ist doch wunderbar!«, rief der Bürgermeister einer
spontanen Idee folgend aus. »Dann können Sie ja heute hierbleiben und unserer
Preisverleihung als Ehrengast beiwohnen. Das gibt für Sie bestimmt viele Punkte
bei den Mürsbacher Bürgern, wenn Sie bei der Wahl dabei sind!«
»Preisverleihung? Was denn für eine Preisverleihung? Was für eine
Wahl gibt’s denn hier in Mürsbach zu gewinnen?«, fragte Monika Schlagbauer
misstrauisch.
»Die Wahl zur Miss Presssack!«, rief Bürgermeister Feiler
enthusiastisch.
Es dauerte ungefähr fünf Sekunden, bis das strapazierte Gehirn von
Monika Schlagbauer die Information verarbeitet hatte. Nach diesem desaströsen
Tag war es nicht mehr zur vollen Rechenleistung fähig. Miss Presssack? Hatte
sie richtig gehört? Als sie begriff, fuhr sie zu ihrem Chauffeur herum und
zischte ihm mit panischem Blick zu: »Oskar, das Auto muss repariert werden! Und
zwar sofort!«
Im Teletext des Bayerischen Fernsehens war auf der Tafel 607 zur
selben Zeit folgende Meldung zu lesen:
Der Deutsche Wetterdienst gibt für ganz Nordbayern und das
südliche Thüringen eine Unwetterwarnung heraus:
Das mediterrane Sturmtief »Luca« wird im Laufe des Abends die
Alpen überqueren und in der Nacht von Süd nach Nord über Bayern hinwegziehen.
Es muss mit schweren Sturmböen und Windgeschwindigkeiten in der Spitze von über
zweihundert Stundenkilometern gerechnet werden.
Zeitgleich nähert sich von Frankreich eine Kaltfront. Im
Kollisionsbereich der beiden Systeme werden schwere Gewitter mit eingelagerten
Windhosen und heftige Niederschläge mit über hundertvierzig Litern pro
Quadratmeter erwartet.
*
Draußen brach eine viel zu frühe Nacht herein. Die Nachmittagssonne
war schon längst verschwunden, graue Sturmwolken
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