Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
Computerkind – ein Experte für so ungefähr alles, solange es sich nicht um zwischenmenschliche Beziehungen handelte. Obwohl er vierunddreißig Jahre alt war und die Taskforce für Cyber-Verbrechen sowie die FBI-Akademie in Quantico erfolgreich absolviert hatte, würde man ihn bis zur Pensionierung das Computerkind nennen. Walden senkte seine Stimme.
»Der Fall in New Hope ist viereinhalb Jahre her. Vielleicht hast du damals mit irgendjemandem über Megan gesprochen? Vielleicht wolltest du ja etwas Nähe herstellen, mit einem einheimischen Polizisten oder einer Zeugin?«
»Nein. Ich spreche nie über meine Familie, wenn ich an einem Fall arbeite. Jedenfalls nicht über meine wirkliche Familie.«
Zu Lucys Job gehörte es, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Vorzugeben, dass sie die Triebe von Pädophilen verstand und ihnen vergab, während sie sich mit ihnen am Küchentisch unterhielt, Eistee schlürfte und der Bildschirmschoner des Computers auf der Küchenarbeitsplatte in einer Endlosschleife pornografische Bilder abspielte. Oder in Internet-Chatrooms so zu tun, als sei sie ein einsames präpubertäres Mädchen oder ein einsamer präpubertärer Junge. Oder verdeckt zu ermitteln, indem sie sich als Mutter ausgab, die die »Model-Dienste« ihres Kindes feilbot. Lucy wusste immer genau, welche Rolle für eine bestimmte Situation erforderlich war. Wie heute im Gericht. Und sie war sehr gut darin, in die jeweiligen Rollen zu schlüpfen und sie wieder abzustreifen – ähnlich dem Anprobieren von Kleidern in einer Umkleidekabine. Nick sagte manchmal, dass sie sogar zu gut darin war, und dass sie es gerne übertrieb, um das gewünschte Resultat zu bekommen. Sie konnte dem nicht wirklich widersprechen. Nick war nämlich in seinem Job ebenfalls sehr gut, und sein Job bestand unter anderem darin, die Wahrheit hinter einem Schleier aus Lügen zu entdecken.
»Ich habe den New-Hope-Fall mal überflogen«, sagte Walden. »Habe nichts Ungewöhnliches finden können. Außer der Tatsache, dass wir keine DNA zum Abgleichen hatten.«
»Was meinte Greally?«
John Greally war Lucys Vorgesetzter im Außendienst gewesen, nachdem sie die FBI-Akademie abgeschlossen hatte, und war nun stellvertretender Leiter des Regionalbüros in Pittsburgh. Aber er war nicht an New Hope dran gewesen. Lucy wünschte, es wäre anders, denn Hamilton, ihr Vorgesetzter damals, war ein Arschloch und mehr an Schlagzeilen und Belobigungen interessiert als an der Wahrheit.
»Wird er meine Familie in Schutzgewahrsam nehmen?«
Diesmal war es an Walden zu seufzen.
»Die können da nicht herumtrödeln, Walden.«
»Tun sie auch nicht, Lucy. Galloway legt gerade eine Akte an. Sie wird sich persönlich damit befassen, da es in den Zuständigkeitsbereich der Post fällt.«
Lucy wollte gerne glauben, dass Jenna Galloway fähig war, mit einem Brieföffner umzugehen, aber weil es hier um ihre Familie ging, hätte sie es vorgezogen, dass jemand, den sie kannte und dem sie vertraute, an dem Fall mitarbeiten würde. Ein richtiger Agent, keine Postbotin.
»Greally verfügt weder über das erforderliche Personal noch über die Gelder für umfassende Schutzmaßnahmen«, fuhr Walden fort. »Außerdem hat er vorgeschlagen, dass du deine halbjährliche Beurteilung schon morgen und nicht erst nächste Woche hinter dich bringst und dir dann erst einmal frei nimmst. Er sagte, Cancún sei um diese Jahreszeit besonders schön. Du hast ohnehin noch viele Urlaubstage.«
Klar. Als ob Lucy sich an den Strand legen und Margaritas schlürfen würde, während ihre Mannschaft sich abrackerte und ihre Familie in Gefahr schwebte.
»Wenigstens rollt er den New-Hope-Fall wieder auf, ja? Und wir leiten ihn?«
Stille.
»Walden?«
»Er hat es versucht, Lucy. Aber wie du selbst gesagt hast, es gab Zeugen, die sahen, wie der Mörder starb. Der Fall ist abgeschlossen. In dem Brief steht nichts, was man nicht auch in den Zeitungsberichten hätte lesen können.«
»Wir haben seine Leiche nie gefunden. Oder vielleicht hatte er einen Partner.«
Selbst dann ergab es einfach keinen Sinn. Warum sollte er sie nach all der Zeit aufsuchen und ihr mitteilen, dass er noch lebte? Nein. Es ging um etwas anderes, da war Lucy ganz sicher.
Walden sprach ihre Gedanken laut aus. »Vielleicht hat das gar nichts mit New Hope zu tun. Jemand könnte deine Karriere sabotieren wollen, indem er versucht, Zweifel an deiner guten Arbeit zu säen.«
Lucy ließ sich Waldens Argument durch den Kopf gehen. Sie
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