Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
kapieren, wie viel Glück sie gehabt hatte. Sie hätte enden können wie Adams Mom. Tot.
»Was, wenn dein Dad, dein richtiger Dad, gar nicht getötet worden wäre? Was, wenn er gerade jetzt auf dem Weg nach New Hope wäre, um dich mitzunehmen? Würdest du nicht mit ihm gehen wollen?«
Jetzt sah Darrin noch verängstigter aus. Adam konnte das verstehen. Wie sollte man nicht verängstigt sein, wenn es da draußen eine ganze große, weite Welt gab und man an einem Ort wie diesem festsaß? Aber dann nickte Darrin. Langsam. Auf. Und ab. Auf. Und ab.
»Wohin?« Dieses eine Wort klang wie das Piepsen eines Vogelkindes.
»Egal wohin. Überallhin. Wohin du willst.«
»Disney World? Wir wollten eigentlich letztes Jahr hinfahren, aber dann hatte Dad auf einmal etwas anderes zu tun.«
»Klar. Disney World.«
Darrin senkte den Blick. »Ich dachte nur … Vielleicht.«
»Gut.« Adam war nicht ganz wohl bei der ganzen Sache, aber selbst wenn der Junge sich verplapperte, wer würde ihm schon glauben?
»Gib deinen Traum nicht auf. Denke weiter daran, eines Tages nach Disney World zu fahren. Und halte nach mir Ausschau. Und ich werde dich im Auge behalten.«
»Aber … Warum? Warum bist du hier? Warum willst du mir helfen?«
Das arme Kind klang so hilflos, als wüsste es nicht, was das Wort Hoffnung überhaupt bedeutet. Adam ging in die Hocke, um Darrin in die Augen blicken zu können. Er legte beide Handflächen auf die Schultern des kleinen Jungen und konzentrierte sich voll und ganz auf ihn.
»Deshalb, Darrin: Wir sind eine Familie. Und du brauchst keine Angst vor Mr Daffy Duck zu haben, oder davor, ins Bett zu machen, oder irgendetwas in der Art. Das ist wirklich nicht schlimm. Unser Dad, also unser richtiger Dad, sagt immer: ›Hinter der nächsten Ecke geht die Sonne wieder auf.‹ Klingt gut, oder?«
»Ja …« Darrin schien nicht vollkommen überzeugt.
»Denk einfach daran: Die Familie steht immer an erster Stelle. Immer! Das ist unser Motto.«
Adam zog ihn an sich, um ihn zu umarmen.
»Und du gehörst zur Familie. Vergiss das niemals.«
Darrin ließ sich ganz in Adams Arme fallen. Unter seinen Tränen wurde Adams Jacke ganz nass. Aber das störte Adam nicht. Überhaupt nicht. Darrin gehörte schließlich zur Familie.
Kapitel 6
Lucy kuschelte sich an Nick, bis er eingeschlafen war. Er hatte sie nicht mit weiteren Fragen über New Hope bedrängt, aber sie wusste, dass ihn ihr Schweigen verletzte. Sie konnte es nicht ändern. Immer wenn sie an den Fall dachte, mit dem sie Karriere gemacht hatte, sah sie nur ein einziges Bild: das eines weinenden, schreienden Zehnjährigen, der sich in die schwarze Dunkelheit stürzte, so schnell, dass es Lucy beinahe nicht gelungen wäre, ihn davon abzuhalten, seiner Mutter in den Abgrund zu folgen.
Kein Kind sollte so etwas erleben müssen. Und es war ihre Schuld. Sie war schuld an Marion Caines Tod. Schuld daran, dass der Mörder sie mitgenommen hatte. Schuld daran, dass Adam alles mitansehen musste. Jetzt kam er zurück, um ihr das Leben schwer zu machen.
Sobald Nick das erste leichte Schnaufen von sich gab, von dem er behauptete, es zähle nicht als Schnarchen, glitt sie aus dem Bett und ging barfuß hinunter ins Erdgeschoss. Auf der Treppe achtete sie darauf, nicht auf die eine quietschende Stufe, die vierte von oben, zu treten. Aus der Küche drang Licht. Dort saß Jenna Galloway, der Neuzugang im Team, die Füße auf einen Stuhl gelegt. Lucy blieb im Türrahmen stehen. Sie war sich nicht sicher, ob es ihr gefiel, dass Jenna sich ganz wie zu Hause fühlte. Es erinnerte sie daran, wie die Sonderermittlerin von der Post in ihr Büro stolziert kam – Lucys Büro, um genau zu sein – und sich so verhalten hatte, als habe sie diesen Posten schon immer innegehabt. Jenna war noch jung, Ende zwanzig. Sie war dünn, aber nicht mager, und ihr dunkelrotes Haar hatte genau den Farbton, der die Männer zweimal hingucken und die Frauen eifersüchtig werden ließ. Sie wirkte kompetent, und das war, was Lucy letztendlich interessierte. Sie schien sich nicht vor ihrer Arbeit zu drücken und würde ihre Kollegen nicht in Gefahr bringen. Über alles andere hielt Lucy ihr Urteil zu diesem Zeitpunkt noch zurück. Zum Beispiel ihr Urteil über Jennas Eignung für verdeckte Ermittlungen.
»Brauchst du etwas?«, fragte Jenna, ohne von ihrem Laptop aufzublicken. Sie tippte mit einer Hand. In der anderen hielt sie eine Kaffeetasse.
»Ich dachte, du löst Taylor draußen ab.«
»In einer
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