Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
zugetraut hatte. Sie wartete mit ihrer ersten Frage, bis das Chaos des morgendlichen Berufsverkehrs hinter ihnen lag und sie auf der Route 22 gen Norden fuhren.
»Ich habe die Zusammenfassung des Falles von vor vier Jahren bislang nur quergelesen …«
»Solche Berichte kennst du nicht aus dem Postdienst, oder?«
Lucy wollte nicht darüber sprechen, was vor vier Jahren passiert war, aber sie wusste, dass es sich nicht vermeiden ließ.
»Ganz sicher nicht. Vielleicht kannst du mich aufklären.«
Jenna wartete. Lucy schwieg.
» Also, dieser unbekannte Täter hat die Opfer überall an der Ostküste und im Mittleren Westen entführt? Niemand hat das beobachtet, die Opfer sind einfach so verschwunden. Alle waren jung. Unterschiedliche ethnische Zugehörigkeiten, unterschiedliches Aussehen, manche waren Prostituierte, andere gingen nur zur falschen Zeit die falsche Straße entlang. Wie habt ihr das alles zusammengeführt?«
Jennas kalifornischem Akzent zuzuhören war wie Achterbahnfahren. Rauf und runter ging es mit ihrer Intonation, bis Lucy nicht mehr auseinanderhalten konnte, welche Sätze tatsächlich mit einem Fragezeichen endeten und welche nicht.
»Haben wir nicht. Es gab kein Muster, keine Leichen. Erst als mein damaliger Vorgesetzter, Chad Hamilton, im Nachhinein mit der Presse sprach, begann man, den Täter überhaupt als Serienmörder zu bezeichnen.«
Lucy erinnerte sich daran, wie verletzend es gewesen war, als Hamilton ihr vorwarf, sinnlos »Gespenstern hinterherzujagen«, als sie ihm erstmals von ihren Verdächtigungen berichtet und ihn gebeten hatte, er möge sie ihre Theorie verfolgen lassen. Er hatte abgelehnt. Aber die Neugier hatte Lucy gejuckt. Weil zwei Zeugen in der Nähe ihrer Heimatstadt beziehungsweise in Washington, D.C., lebten, hatte Lucy ihren Urlaub zu einer nicht abgesegneten Ermittlungsreise genutzt – ein Detail, das der Bericht verschwieg.
»Wieso hast du dich in die Sexualstraftaten-Abteilung versetzen lassen?«, fragte sie Jenna.
»Machst du Witze? Hast du eine Ahnung, was für Karrieremöglichkeiten du Agentinnen wie mir eröffnet hast?« Jenna zählte an ihren Fingern mit. »Erstens hast du mit der Einwanderungs- und Zollbehörde zusammengearbeitet, um diesen Sexhandel-Ring hochgehen zu lassen. Dann haben du und die Jungs von der Cyber-Kriminalität eine riesige Menge Pädophilen-Onlineforen auffliegen lassen. Taylor hat mir alles darüber erzählt. Im September hast du das Mädchen gerettet, das von einem Serienmörder entführt worden war. Und jetzt Operation Roundup, bei dem ihr mit Hilfe archivierter Nachsendeanträge der Post und Steuererklärungen einige der meistgesuchten Sexualstraftäter in den Vereinigten Staaten dingfest gemacht habt!«
Ihre Stimme wurde schrill vor lauter Erregung. Sie atmete hektisch ein. »Diese behördenübergreifende Taskforce gegen Sexualverbrechen mag als Experiment begonnen haben und war vielleicht mehr auf die Bedürfnisse der allgemeinen Öffentlichkeit zugeschnitten als auf die der beteiligten Behörden selbst, aber sehen wir den Tatsachen ins Auge, Lucy: Seit dir ist die Sexualverbrechensaufklärung wieder sexy.«
Lucy tat so, als konzentrierte sie sich auf die Straße, damit sie das Grinsen ignorieren konnte, das Jenna ihr zuwarf. Als erwartete sie, dass gleich ein Hollywoodregisseur vor ihnen aufspringen und »Action!« oder irgendetwas Ähnliches rufen würde.
»Der Großteil unserer Arbeit bekommt keine fetten Schlagzeilen, Jenna. Meistens reden wir einfach nur ganz altmodisch mit Leuten. Du würdest das vermutlich langweilige Routine nennen.«
Jenna schüttelte den Kopf und ihr Pferdeschwanz hüpfte hin und her.
»Verglichen mit den Fällen, an denen ich für die Post gearbeitet habe? Wo wir gerade von öde sprechen … Hast du eine Vorstellung davon, wie viele Varianten es von der Brief-aus-Nigeria-Masche gibt? Versteh mich nicht falsch, mir gefällt meine Arbeit. Aber, wow, das Zeug, das du machst …«
Na toll. Noch so ein Adrenalinjunkie, der in der Pubertät steckengeblieben war. Wie die junge Kollegin, mit der Lucy im September zusammengearbeitet hatte. Schon wieder die Glucke spielen zu müssen war das Letzte, was sie brauchte. Jenna rutschte auf ihrem Sitz hin und her und zog die Beine unter ihren Körper.
»Also, wie bist du darauf gekommen? Dass die New-Hope-Fälle zusammenhängen?«
»Ich wurde der Kriseninterventionsabteilung zugeteilt.«
»Das sind die Jungs vom Profiling und dem Geiselrettungsteam?«
»Ja.
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