Blutflucht - Evolution
»Au!«
»Hab ich dir wehgetan?« Sofort zog Jack die Hand zurück.
Ich grinste. »Nein, dein Sohn hat mich in die Niere getreten.«
Jack hob den Zeigefinger. »Dann muss ich mal ein ernstes Wort mit ihm reden.«
Drei Monate waren vergangen und vieles hatte sich seitdem verändert. Jack und ich waren inzwischen verheiratet; ich durfte mich jetzt offiziell Mrs. Sheridan nennen. Und man stelle sich vor wer meine Brautjungfer war: Hill! Seit dem Zwischenfall mit George war sie nicht mehr wiederzuerkennen. Durch den Schock hatte sie mehrere Kilos abgenommen und kleidete sich nun auch nicht mehr so ordinär. Zusammen mit einer anständigen neuen Frisur – und braunen anstatt pinken Haaren –, wirkte sie nun wie ein nettes fünfzehnjähriges Mädchen. Solange sie den Mund hielt. Obwohl sich ihre Ausdrucksweise sehr gebessert hatte.
»Spricht Lee noch zu dir?«, fragte Jack schelmisch grinsend.
Ich horchte in mich hinein. Lee war da, aber natürlich nicht mehr seine Stimme, nur der Fötus. Er entwickelte sich schneller als normale Babys und würde über zwei Monate früher als gewöhnlich auf die Welt kommen. Ich war jetzt schon sehr gespannt, was für Fähigkeiten er haben würde.
Wieso Jack und ich uns auf »Lee« geeinigt hatten? Es war Jacks zweiter Vorname gewesen. In seinem alten Leben.
Jack und ich waren nicht mehr dieselben Menschen wie früher. Vor allem nachts holte uns das Grauen immer wieder ein. Das Bewusstsein des Doktors hatte in mir Spuren hinterlassen, doch meine Fähigkeiten halfen mir, die Erinnerungen an seine Gräueltaten zu verdrängen und auch Jack konnte ich damit helfen.
Dank der Informationen, die MALVE aus den LP-Computern hatte, konnten ihre Wissenschaftler viele neue Medikamente entwickeln – natürlich ohne dabei Menschen zu quälen. Überwacht von einer unabhängigen Kommission, zu gleichen Teilen zusammengesetzt aus Menschen und Mutanten, forschte GLOBAL HUMAN & MUTANT RIGHTS nun zum Wohle aller. Sam erhielt eine Therapie, die seine unerträglichen Schmerzen beträchtlich linderte und seine Lebenserwartung um mehrere Jahre ansteigen ließ. Jack dagegen verweigerte es, seine Narben entfernen zu lassen. Er meinte, sie seien ein Teil seines Lebens und sollten ihn immer daran erinnern, dass er nicht aufhöre, für seine Einzigartigkeit zu kämpfen.
Man konnte eben aus einem Tiger kein Kätzchen machen.
Das MP der Schwester hatte bei der Übertragung der Daten MALVE unseren Aufenthaltsort verraten. Nachdem ein Spezial-Team uns und die gefangenen Mutanten befreit hatte, inspizierten es jeden Winkel des Institutes. Natürlich informierte ich sie über das merkwürdige Verhalten des Arztes, der blutend und am Daumen nuckelnd am Boden lag. Als ich ihnen die Ratte zeigen wollte, in der das Bewusstsein von Dr. Harcourt steckte, war sie tot. Seine Artgenossen waren über ihn hergefallen und hatten ihn grausam zugerichtet: die Ohren abgebissen, die Augen herausgefressen, die Schnauze und das restliche Fell waren nur noch blutige Fetzen gewesen. Harcourt hatte zum ersten Mal in seinem Leben erfahren, was es bedeutete, von anderen massakriert zu werden und unter Qualen zu sterben. Wenigstens war er einmal in den »Genuss« gekommen, überhaupt etwas zu fühlen.
Sein Körper, diese leere, seelenlose Hülle, wurde verarztet und lag nun in einem Sanatorium, wo sie verweilen würde, bis das Herz aufhörte zu schlagen.
In den Kellern mehrerer Lago-Pharm-Institute fand das Spezial-Team riesige Atomisatoren. In ihren Filtern befanden sich Rückstände menschlicher DNS. Dort hatten Harcourt und seinesgleichen ihre »humanen Versuchsobjekte« einfach verpuffen lassen, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatten oder umgekommen waren.
Die Mitarbeiter von MUTAHELP, Lago-Pharmaceutical und die Regierungsmitglieder, die in die Sache involviert waren, wurden zu lebenslanger Haft ohne Bewährung verurteilt und die Drahtzieher der ANTI-MUTANTEN-FRONT somit zerschlagen. Natürlich gab es auch dort, wie bei uns, geheime Untergruppen, die noch immer Macht besaßen. Unsere Spione hatten weiterhin genug zu tun. Unsere Anwälte arbeiteten mit Hochdruck an verschiedenen Fällen und setzten sich für die Verbesserung der Mutantenrechte ein.
Ich hatte Ron gefragt, wieso MALVE das Gebäude nicht eher gestürmt hatte. »Du hast doch gesagt, das Militär wäre noch nicht stark genug?«
»Das stimmt.« Ron nickte. »Viele kleine Gruppen haben bisher immer gezögert, sich uns anzuschließen. Aber dank unseres neuen
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