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Blutflüstern: Novelle (German Edition)

Blutflüstern: Novelle (German Edition)

Titel: Blutflüstern: Novelle (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Harrison
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war. Weit entfernt erklangen die Glocken von Cincinnatis Kathedrale, die – genauso wie die Glocken der Kirchen im Umkreis – nicht von den Klöppeln, sondern von der Magie zum Klingen gebracht wurden.
    Wir standen außerhalb des Schutzkreises, wie alle anderen auch. Er glitzerte wie ein Opal; die verschiedenen Auren der sieben ausgewählten Leute verteilten Schlieren aus Blau, Grün und Gold darauf. Ab und zu blitzte ein wenig Rot oder Schwarz auf: Das Rot ein Zeichen für Leiden, die uns stärker machten, das Schwarz für das Böse, das wir wissentlich taten – wir konnten nur eine Wahl treffen. Es war atemberaubend, und ich starrte den Schutzkreis ehrfürchtig an. Ich kniete im Schnee, umgeben von Hunderten von Leuten, aber in meinem Staunen fühlte ich mich allein. Ich konnte die kollektive Macht, die zwischen den Gebäuden hin und her schwappte, nicht sehen – sich aufbauende, wogende Macht –, aber ich konnte sie fühlen.
    Ich suchte Robbies Blick. Seine Augen waren riesig. Er beobachtete nicht den Steintiegel. Stattdessen bewegte er seinen Mund ohne einen Laut zu erzeugen und zeigte mit der Hand hinter mich.
    Ich sprang aus der Hocke auf und drückte meinen Rücken gegen den Felsen. Die Flüssigkeit in der Vertiefung des Steins war fast verschwunden. Sie erhob sich in einem goldenen Nebel, und ich schlug mir eine Hand vor den Mund. Der Nebel hatte die Umrisse einer Person. Er bildete
klar und deutlich die Form eines Mannes mit breiten Schultern und männlicher Statur. Die Gestalt stand gebeugt, als hätte sie Schmerzen, und einen panischen Moment lang dachte ich darüber nach, ob ich meinem Dad wohl wehtat.
    Hinter uns erklang ein Schrei aus tausend Kehlen. Ich keuchte auf und starrte über den Kopf meines Bruders hinweg zur Menge. Auf der Bühne trommelte der Schlagzeuger vier Mal, um den Beginn der Open-End-Party zu verkünden, dann stimmte die Band einen Song an. Die Leute schrien vor Begeisterung, und mir war leicht schwindlig. Der Lärm war fast körperlich zu spüren, und ich musste mich am Felsen abstützen.
    »Tadel dem Teufel«, erklang hinter mir eine zitternde, verängstigte Stimme. »Es ist die Hölle. Die Hölle, bevor sie fällt. Heilig getadeltes Feuer!«
    Ich zuckte zusammen und drückte mich mit weit aufgerissenen Augen fester gegen den Stein hinter mir. Zwischen Robbie und mir stand ein Mann – ein kleiner Mann – im Schnee, barfuß und mit lockigem schwarzen Haar, einem kleinen Bart, breiten Schultern … und splitterfasernackt. »Du bist nicht mein Dad«, sagte ich und fühlte, dass mein Herz viel zu schnell schlug.
    »Ein guter Grund, zu den Engeln zu singen, oder?«, sagte er. Er zitterte heftig und bemühte sich, sich mit den Händen zu bedecken. Und dann schrie eine Frau.

4

    »Flitzer!«, schrie die Frau und zeigte mit einem dick eingepackten Arm auf unseren Geist.
    Köpfe drehten sich, und ich bekam Panik. Mehrere Leute keuchten auf, andere johlten. Robbie sprang neben mir auf den Pflanzenkübel und riss sich den Mantel von den Schultern.
    »Mein Gott, Rachel!«, sagte er, und das funkelnde Licht des Schutzkreises beleuchtete sein schockiertes Gesicht. »Es hat funktioniert!«
    Der kleine Mann kauerte sich zusammen und zuckte, als in der Ferne etwas knallte. Am Fluss zündeten sie Feuerwerkskörper, und die Menge ahhte und oohte, als hinter einem der Gebäude ein Pilz aus Rot und Gold auftauchte. Der Mann hatte offensichtlich Angst und starrte verloren und vollkommen verwirrt auf das Glitzern am Himmel.
    »Hier, zieh das an«, sagte Robbie. Er wirkte seltsam nur mit der Mütze, dem Schal und den Handschuhen. Der Mann zuckte wieder zusammen und starrte ihn verständnislos an, als Robbie ihm den Mantel um die Schultern legte.
    Immer noch schweigend wandte der Mann mir den Rücken zu, schob seine Arme in die Ärmel und schloss
mit erleichterter Hast den Mantel. Die nächste Rakete stieg auf, und er sah mit hängendem Kiefer hoch, als das grüne Leuchten auf den umliegenden Häusern schimmerte.
    Robbie trug eine besorgte Miene zur Schau. »Mist, Mist, Mist«, murmelte er. »Ich hätte das nie tun dürfen. Rachel, kannst du nicht ab und zu mal bei einem Zauber versagen?«
    Mein Herz rutschte mir in die Hose und ich konnte nicht atmen. Unsere Wette. Verdammt. Das war nicht Dad. Ich hatte etwas falsch gemacht. Der Mann, der barfuß und gebeugt im Mantel meines Bruders vor mir stand, war nicht mein Dad.
    »Ich hatte angenommen, die Hölle wäre heiß …«, meinte er

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