Blutfrost: Thriller (German Edition)
wenn Freunde oder Bekannte zu Gast waren. »Denen geht es gut.«
Auch tags darauf, als Mutter das Bild bei dem Fotografen in dessen großem Haus holen sollte, war ich nicht krank, sonderndurfte in die Schule gehen. Als ich nach Hause kam, war Mutter nicht da. Vater schlief. Dass Mutter nicht da war, kam so gut wie nie vor, und ich bekam eine Wahnsinnsangst.
Als sie schließlich nach Hause kam, standen ihre Haare in alle Richtungen ab, und sie redete unaufhörlich von dem Fotografen und dem Bild, das sie in zahlreichen Kopien auf dem großen Tisch ausbreitete. Sie meinte, es stünden uns gute Zeiten bevor, und schrieb auf die Rückseite unserer lächelnden Gesichter: Lieber X, liebe Y, Grüße aus Rexville.
Auch in den nächsten Tagen ging ich in die Schule, denn ich sei, wie Mutter mir mitteilte, noch immer gesund, sodass die Pillen als überflüssig erklärt und weggepackt wurden. Wenn ich nach Hause kam, schlief Vater. Mutter war weg und kam immer erst gegen fünf Uhr. Ihre Haare wurden mit jedem Tag zerzauster und ihr Lächeln immer breiter. »Es geht voran«, sagte sie und zwinkerte mir zu, während sie Milchreis in den Messbecher schüttete. Bis Weihnachten bekamen wir jeden Nachmittag Reisbrei, sodass Vaters Plastiklätzchen immer verkleckert war.
Mutters seltsam gute Laune hielt sich bis kurz vor Weihnachten. An den Tag erinnere ich mich genau, denn ich kam zum ersten Mal, solange ich denken konnte, mit einem ziemlich guten Zeugnis nach Hause. Das bemerkte aber niemand, denn Vater schlief, und Mutter lag unter Kissen begraben auf ihrem Bett. Das Einzige, was ich sehen konnte, waren ihre matten blonden Haare, die unter dem Kissen hervorlugten und wie die Spitzen eines Strohsternes aussahen.
Wir bekamen kein Abendessen, Mutter blieb im Bett. Ich aß Cornflakes mit fettarmer Milch und hörte sie nebenan im Bett stöhnen. »Mein Leben ist kaputt«, murmelte sie immer wieder.
In dieser Nacht machte ich wieder ins Bett, wie in den Tagen vor der Fotografie und auch viele Monate vorher. Ich erwachte in einem klammen, stinkenden Pyjama auf klitschnassen Laken. Das warnichts, was ich unter Kontrolle hatte, es passierte einfach. Ich wurde zwar immer direkt danach wach und schämte mich, blieb dann aber im Bett und schlief weiter, da ich jetzt ja ohnehin nichts mehr machen konnte.
Am nächsten Morgen zog meine Mutter das vollgepinkelte Laken vom Bett und schrie mich an, wie leid sie das alles sei und ob ich überhaupt eine Ahnung habe, wie teuer es sei, ständig diese Bettwäsche zu waschen. Allein schon Strom und Waschmittel. Sie proklamierte, dass ich wieder krank sei, und steckte mir eine blaue Migränepille in den Mund. Den Geschmack hatte ich den ganzen Tag im Mund, obwohl ich mich zweimal erbrach. Auch das seltsame Gefühl, einen pelzigen Belag auf den Zähnen zu haben, blieb bis zum Abend.
Dann hörte ich Mutter im Wohnzimmer telefonieren, sie machte einen Termin bei einem Arzt aus. »Sie kann kein Wasser mehr lassen. Ich weiß wirklich nicht, was mit diesem Kind los ist.«
Merkwürdig, dachte ich. Ich musste doch ständig aufs Klo.
– E
Ja, ich finde auch, dass das reichlich viel Urin war, schimpfte ich leise und erwog, ihre Briefe an den Staatsanwalt weiterzuleiten.
Jetzt musste sie sich wirklich zusammenreißen!
Antworten wollte ich auf keinen Fall darauf. Stattdessen beschloss ich, einen kleinen Ausflug zu machen.
21
Schnee, Schnee, Schnee und dann eiskalter Regen. Abgelöst von neuem Schnee. Drei Monate lang kalte Knochen, die bei der kleinsten Berührung knackten. Drei Monate lang Wolle und Daunenjacken, weißer Atem und frierende Fingerspitzen, die nie richtig warm werden wollen. Drei Monate lang. Kann sein, dass mir jeder Meteorologe da widerspräche, aber genau so fühlte es sich an.
Zumindest hatte es im Laufe der Nacht heftig geschneit, doch als ich am Morgen das Autoradio einschaltete, hörte ich, dass weder Kitas noch Schulen durch die Schneefälle ausfallen sollten, sodass ich das Radio wieder ausmachte. In den USA gab es angeblich einige Radiosender, die ausschließlich Musik spielten, aber wie sagte Marianne immer so schön: Was gibt es dort denn nicht? Vermutlich hätte ich meinen Besuch bei Großvater in Rødekro auf einen anderen Tag verschieben sollen, aber ich hatte ihn inzwischen wirklich lange nicht mehr gesehen und musste einfach mal raus. Außerdem, und da konnte ich ruhig ehrlich sein, wollte ich ihm ein paar Informationen entlocken. Ich musste mehr über Daniel wissen,
Weitere Kostenlose Bücher