Blutfrost: Thriller (German Edition)
versuchte sie es mit ihrer roten Perücke. Sie betrachtete sich selbst von der Seite, zupfte an einer Locke herum, riss sich die Perücke dann aber wieder mit einem wütenden Brüllen vom Kopf.
Sie war nicht wie die anderen gut sechshundert Einwohner des Ortes. Sie war kein Loser. Der Fotograf kam aus New York. Und er hatte G-E-L-D. Sie setzte die blonde Marilyn-Perücke auf und wandte sich mir zu. »New York, du weißt schon«, wiederholte sie und zog die Augenbrauen bis fast zum Haaransatz hoch. »Das sind ganz andere Menschen.« Er hatte ein Haus gemietet, um in aller Ruhe an einem Fotoprojekt arbeiten zu können, das in Manhattan ausgestellt werden sollte.
Projekt. Manhattan. Ich verstand nicht, was das hieß, wohl aber, dass es wichtig sein musste. Und er sollte am nächsten Tag kommen, um Bilder von uns für eine Weihnachtskarte zu machen, die meine Mutter an unsere Familie in Dänemark schicken konnte, die ich nie getroffen hatte und von der sie eigentlich auch nie sprach. »Er kann mich gut leiden«, vertraute sie ihrem Spiegel an, legte den Kopf zur Seite und zwinkerte sich zu. »Und er macht das gratis.«
Sie sprach Dänisch mit mir. Das tat sie immer, wenn wir allein waren – oder wenn nur Vater bei uns war. Ihn trieb das immer zur Weißglut, denn er verstand nicht, was wir sagten. Mutter hatte die Angewohnheit, in diesen Momenten immer zu ihm hinüberzuschauen, sodass er denken musste, wir redeten über ihn. Inzwischen jedoch hatte er längst aufgegeben. Jetzt saß er am Tisch, den Kopf auf einen Arm gelegt. In diesen Momenten wusste ich nie, ob er schlief oder sich nur in sein altes Leben zurückträumte.
Mutter stellte ihre toupierten, eingesprayten Haare hoch und lächelte den Spiegel gewinnend an. »Ich glaube, ich muss da noch was ondulieren, aber ansonsten geht es.«
Den Rest des Tages verbrachte sie mit um den Kopf gewickelten Wattebäuschchen, und als sie diese herausnahm, war sie blond bis zur Kopfhaut, ja bis tief in ihre Seele hinein.
Am nächsten Tag saßen wir alle an dem großen Tisch, der nicht bewegt werden konnte, mit dem Rücken zur Wand. Das Licht fiel schräg durch das Fenster herein, und vor uns thronte eine ganze Armee von Weihnachtsmännern in klarem Plastik, die Mama per Katalog gekauft und sorgsam aufgestellt hatte.
Es war zehn Uhr morgens, Vater war erst seit einer halben Stunde wach und hatte folglich noch nicht die Zeit gehabt, sich wieder ins Koma zu saufen, wie Mama das immer nannte, wenn sie ihn mit Sabber im Mundwinkel auf dem Boden fand. Er saß neben mir und versuchte, sich wach zu blinzeln. Auf meiner anderen Seite saß Mama und plauderte mit dem Fotografen, der seine Ausrüstungvorbereitete und Mama höflich murmelnd antwortete. Wie immer, wenn sie ihr Aussehen herausstellen wollte, trug sie pastellfarbene Kleider. Der Fotograf sah ziemlich seltsam aus. Er hatte rabenschwarze Haare, einen schwarzen Vollbart und auf dem Kopf trug er etwas, das Mama als »französisches Béret« bezeichnete. Dieses Ding war tiefrot und passte zu seinem Schlips. Er war sehr schweigsam, während Mama drauflos plauderte. Sie strahlte wirklich wieder Energie aus, war richtiggehend elektrisiert. Schon um sieben war sie aufgestanden, hatte alle mit ihrem Föhn aus dem Schlaf gerissen und dann dänische Weihnachtslieder gesungen. Als ihre Haare endlich saßen, wie sie sollten – turmhoch oben auf dem Kopf und im Nacken mit einer Samtschleife zusammengebunden (die man auf den Fotografien aber nicht sehen würde) –, weckte sie mich aufgedreht, indem sie mir die Decke wegzog und gleich mit einer Bürste auf meine Haare losging. Das Beste sei aber, sagte sie mir, während sie mich in sitzende Stellung zog, dass ich heute nicht krank sei und keine Pillen nehmen müsse. Vor allem die blauen Migränepillen sollte ich nicht nehmen. Die machten mich immer richtig krank, sodass ich den Tag auf der Toilette verbrachte.
»Und jetzt wasch dich«, flötete sie, während sie meinen Vater mit einem eiskalten Coors-Bier weckte, damit er nicht zitternd vor dem Fotografen saß.
So ergab es sich, dass wir drei an dem Morgen, an dem der dunkle Fotograf aus Manhattan uns verewigen sollte, seltsam fröhlich waren. Das Resultat zeigte dann tatsächlich eine breit grinsende Familie aus dem großen Amerika, die vermutlich bei allen Familienmitgliedern, denen es nicht an Respekt fehlte, an den Kühlschrank gepinnt wurde. »Unsere Familie in den USA«, würden unsere Verwandten in Dänemark stolz erklären,
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