Blutfrost: Thriller (German Edition)
ohne direkt in Kontakt mit ihm zu treten. Rødekro war dafür zweifellos der beste Ort, denn wenn man bestimmte Frauen für Tratschweiber hielt, kannte man die Schweinebauern dort auf dem Land noch nicht. Sie hielten ausgiebige Schwätzchen, wenn sie sich mit ihren Traktoren auf den schmalen Feldwegen begegneten, wenn sie einander bei den großen Maschinen halfen, die immer mal wieder kaputtgingen, oder wenn die tonnenschweren, süßlich nach Gras duftenden Rundballen umgelagert werden mussten. Und ganz besonders redeten sie, wenn sie ihren kalten, schwarzen Kaffee an Großvaters Küchentisch tranken,dieser Tisch, der einmal täglich mit einem feuchten Lappen abgewischt wurde, der vermutlich Millionen von Bakterien beheimatete, die noch unter keinem Mikroskop untersucht worden waren.
Oh ja, die Schweinebauern in Rødekro kannten ihre Nachbarn in- und auswendig, sie wussten alles über Gurli und Sonja und Elsbeth, insbesondere, wenn die mit jemandem plauderten, mit dem sie eigentlich nicht plaudern sollten. Hörte man bei diesen Gesprächen an Großvaters Tisch genau zu, erschien es beinahe, als könnten diese braven Männer tatsächlich Gedanken lesen. Eine Sache war ganz sicher: In ihren Köpfen gab es spezielle Zentren, in denen die Trivialitäten ihrer nächsten Mitmenschen abgespeichert waren, und diese Bereiche des Hirns mussten besser durchblutet sein als alle anderen. Vielleicht wäre das bei mir auch nicht anders, wenn ich tagaus, tagein mit Schweinen zu tun hätte. Auf jeden Fall hatte ich als kleines Mädchen immer begeistert die Ohren gespitzt, wenn Großvater und die anderen Bauern ihre Geschichten erzählten.
Ich verfluchte meine Sommerreifen, denn auf den kleinen Straßen erinnerte der Asphalt eher an braune Seife, sodass mir das Lenkrad ständig aus den Fingern glitschte. Wenn ich an den Winter dachte, verfluchte ich Ruth aus ganzem Herzen. »Oh, ist das hübsch!«, war ihr ständiger Kommentar. Unablässig. Drei Monate lang. Hingerissen starrte sie aus dem Fenster, hinter dem alles angeblich so wunderbar weiß war. Reiß dich zusammen, du lächerliche Schrulle! , dachte ich dann. Das ist weder schön noch weiß, das ist gelb und hässlich. Und manchmal sogar braun. Ich schloss mich voll und ganz den klugen Worten einer Frau an, die einmal gesagt hatte: »Schnee ist böses Wasser, Regen nur unsympathisches Wasser.« Trotzdem, je näher ich Rødekro kam, desto weißer und schöner wurde die Landschaft, die mir sonst immer so trostlos erschien.
Als ich schließlich auf dem Kies vor dem stillgelegten Schweinestall parkte, wurde ich von einer wohlbekannten Schar Katzen begrüßt. Mein geliebter Großvater kam mir entgegen, seinen kleinen, drahtigen Körper wie immer in Blaumann und Gummistiefel gehüllt, und grinste mich zahnlos an, ehe er im Haus verschwand und die Tür offen stehen ließ. Wir betraten die Küche von zwei verschiedenen Seiten, und ich wusste, dass er noch rasch im Schlafzimmer gewesen war und sich seine Zähne und sein Hörgerät geholt hatte. Ich umarmte ihn und reichte ihm eine Plastiktüte mit Einmaltüchern.
»Für dich.«
Er zog die Augenbrauen hoch, nahm die Tüte und stellte sie auf den Küchentisch. Er wusste ganz genau, was das war. Wie immer ging ich zum Waschbecken, nahm den ewig nassen Lappen und warf ihn in den Müll. Dann öffnete ich eine der Packungen, nahm ein feuchtes Tuch heraus und wischte damit Großvaters Wachstuch ab. Es war, wie jedes Mal, voller Kaffeeflecken, Krümel und Katzenhaare.
»Magst du ein Brot?« Großvater blickte kurzsichtig in seinen Kühlschrank.
»Nur eins mit Curryhering, wenn du welchen hast?«
Wir aßen Curryhering und südjütländische Rauchwürstchen, während eine Katze nach der anderen auf den Tisch sprang. Großvater scheuchte sie weg, und ich begann, den am besten durchbluteten Teil seines Gehirns zu aktivieren: den für Tratsch.
»Sag mal, wie oft war Daniel eigentlich verheiratet?«
»Mal nachdenken …« Sein rasselnder Atem war lauter als seine Stimme. Fast alle alten Schweinebauern hatten Lungenprobleme. Schuld daran war der ständige Gülledampf.
»Also nur die, die er wirklich geheiratet hat?«
»Die, mit denen er Kinder hatte. Wie viele waren das? Und wie viele Kinder hat er?«
»Als dein Vater starb, war er noch mit Vibeke zusammen«, Großvater sprach schrecklich langsam, besonders heute. Vielleicht war Daniel nicht sein Lieblingsthema. »Diese gebleichte Blondine mit dem kräftigen Hinterteil.«
»Ich habe ihn nur
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