Blutgeld
Art
taqqiyya
. Aber Lina konnte sich nicht der Tatsache entziehen, dass sie gleichzeitig eine Frau des Ostens und des Westens war, ein Geschöpf des Schicksals und des freien Willens. Das war eine weitere Eigenschaft, die für die Schweigsamen typisch war. Sie wussten nicht, wer sie waren.
Auch Lina Alwan war Exil-Irakerin, aber aus anderem Holz geschnitzt als Mr. Hammud. Sie stammte aus der alten Aristokratie, die früher verächtlich auf Neureiche wie Hammud herabgeblickt hatte, aber in den letzten Jahren widerwillig lernen musste, mit ihnen Frieden zu schließen. Die Familie hatte Bagdad 1968 verlassen, als der Herrscher an die Macht kam, und war zunächst nach Amman und später nach London geflüchtet. Ihr Vater war im Exil eine Art arabischer Ashley Wilkes geworden: ein sanfter Patrizier, der sich große Mühe gab, sich den veränderten Umständen anzupassen, es aber nie ganz schaffte. Seine Frau war kurz nach der Ankunft der Familie in England gestorben, und er hatte sein einziges Kind dazu erzogen, stark und unabhängig zu sein. Sie sollte wirklich Teil ihrer neuen Lebenswelt sein – auf eine Weise, wie er es nie sein könnte. Lina war sein Ein und Alles, und die ganze Intensität arabischen Familiensinns wurde in diese eine Beziehung gesteckt.
Als Heranwachsende war sie all das gewesen, was ein Einzelkind sein konnte: bockig, kapriziös, unsicher – ein eigensinniges Mädchen, das von ihrem sanften, verwirrten Vater verwöhnt wurde. Aber sie hatte auch etwas Ernstes an sich, von Anfang an. Sowie sie den Irak verlassen hatten, war ihr Vater davon ausgegangen, dass sie irgendwann aufs College gehen und einen Job bekommen würde. So machte man das im Westen, und er war entschlossen, ein moderner, aufgeklärter Araber zu sein, selbst wenn es ihn umbrachte. Es war ein Glück, dass es ihm erspart blieb, Nassir Hammud zu erleben.
Als sie Bagdad verließen, war Lina fünf Jahre alt, und woran sie sich hauptsächlich noch erinnern konnte, waren die Gerüche der Stadt, die unendlich vielseitiger waren als die Londons: der muffige Geruch in dem riesigen Haus ihres Großvaters im Stadtviertel Waziriyah; der süße Duft an ihren Fingern, wenn sie auf dem Gewürzmarkt des alten Suk die Beutel mit Muskat und Kardamom berührte; das Aroma von gegrilltem
masguf
im Fischrestaurant in der Abu-Nawas-Straße, am Tigris-Ufer, wo ihr Vater donnerstagabends immer mit der Familie hinging.
Lina erinnerte sich auch an den Geruch der Angst. Er war überall in der Stadt in jenem Sommer, als die Panzer den Präsidentenpalast umstellt hatten und die feinen, alteingesessenen Familien Bagdads panisch die Flucht ergriffen. Lina erinnerte sich an die an der Wand aufgereihten Koffer und wie sie im Auto die Wüstenstraße nach Jordanien entlanggerast waren, bevor die Grenzen geschlossen wurden. Sie erinnerte sich an den leeren Blick voller Trauer in den Augen ihrer Mutter, als sie Bagdad für immer verließen. Der Herrscher hatte bereits seine Verhörzentrale in einem Vorort Bagdads eingerichtet. Es wurde der Qasr-al-Nihayyah genannt, der «Palast des Endes». Schon nach wenigen Monaten hatte sich unter den Exilanten ein neuer Ausdruck eingebürgert. Wenn einer ihrer Freunde oder Verwandten verhaftet wurde, sagten sie
«Nayem jawab»
– «Er ist eingeschlafen, drinnen.» Als Lina achtzehn oder neunzehn war, hatte man fast jeden erwachsenen Iraker, den sie gekannt hatte, «zum Schlafen gebracht» oder getötet.
In den Jahren danach hatten sich die Iraker an den Geruch der Angst gewöhnt, so wie Menschen, die in der Nähe einer Müllkippe leben, sich an den Gestank von Abfall gewöhnen können. Es war der feuchte, scharfe Geruch von etwas, das tief im Inneren des Körpers gefangen war und von innen nach außen faulte. Man konnte es spüren: eine plötzliche Enge in der Kehle, ein unwillkürliches Zittern im Hals, eine Handfläche, die immer feucht von Schweiß war. Es war der hohle Blick der Beschämung und Kapitulation bei den Männern, die in diesem ersten Sommer verhaftet und gefoltert worden waren und in allen Sommern danach. Für sie, für ihre Mütter, Schwestern und Nichten war die Angst immer da.
Linas Begegnung mit Mr. Hammud hatte sich auf eine typisch irakische Weise ereignet, und es war etwas, worüber sie nie sprach. Nicht lange nach dem Tod ihres Vaters, als sie an der London University gerade ihren Abschluss in Informatik machte, hatte sie Besuch von einem Mann bekommen, der im Ministerium für Außenhandel in
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