Blutgrab
Blut rauschte in seinen Ohren, und erst jetzt bemerkte er, dass er betrunken war. Noch vor wenigen Minuten, als er mit den anderen an der Theke der Altherren-Kneipe gestanden und gezecht hatte, war es ihm gut gegangen. Doch jetzt, als er an der frischen Nachtluft stand, war ihm, als hatte ihm ein Unsichtbarer eins übergebraten. Unsicher stand Hans Malbach an der obersten der drei flachen Stufen, die Kneipentür und Bordstein voneinander trennten, und umklammerte den eisernen Handlauf.
Er war nicht betrunken - er war sternhagelvoll, und die Wirkung des Alkohols entfaltete sich erst hier draußen. Obwohl er Probleme hatte, das Gleichgewicht zu halten, war es gut so wie es war. Hans Halbach hatte seine Freunde, die er schon seit vielen Jahrzehnten kannte, getroffen und sich mit ihnen betrunken. Das kam nicht allzu oft vor, und dennoch hatte niemand der anderen gefragt, warum er ausgerechnet heute, an einem Freitagabend, so viel trank. Natürlich, er war Rentner und musste nicht mehr früh raus, zudem war Wochenende, doch wirklich interessiert hatte sich niemand für den Grund seines Besäufnisses.
Vielleicht, sinnierte Halbach in seinem vom Alkohol vernebelten Gehirn, war es auch gut so.
Es ging sie nichts an.
Es war sein Ding.
Und er war niemandem Rechenschaft schuldig. Jetzt schon gar nicht mehr.
Erst heute Morgen war er beim Arzt gewesen. Doktor John hatte ihm mit ernster Miene eröffnet, dass er sich über den Tumor, der in der Leber seines Patienten entdeckt worden war, ernsthafte Sorgen machte. Dringend sollte sich Halbach zur Behandlung ins Klinikum begeben. Sicherlich konnte man ihm helfen, zumindest sein Leben verlängern.
Für einen unbestimmten Zeitraum zwar, aber immerhin: Es bestände Hoffnung.
Halbach registrierte, dass sich Tränen in seinen Augen sammelten, die er mit einer hektischen Handbewegung fortwischte. Prompt musste er wieder gegen den Schwindel ankämpfen.
In der Arztpraxis war ihm gewesen, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Erst hatte er an den Worten des Arztes gezweifelt, sie für einen makabren Scherz gehalten, doch an der verschlossenen Miene von Doktor John hatte er gesehen, dass die Situation ernst war.
Es besteht Hoffnung, hallten die Worte seines Hausarztes in ihm nach. Obwohl er Doktor John seit vielen Jahren kannte und vertraute - diesmal hatte der Mediziner gelogen, das hatte Halbach verspürt. Was war das für eine Behandlung? Eine Operation, die sicherlich nicht ohne Risiken ablief, eine Bestrahlung, womöglich noch eine anschließende Chemotherapie, die seinen vom Krebs geschwächten Körper noch weiter zerfraß und den Tod schließlich begünstigte. Oft genug hatte Halbach Zeitgenossen erlebt, die an den Folgen der Therapie elendig verreckt waren.
Nein, das wollte er sich nicht antun.
Niemand würde um ihn weinen, dachte er verbittert. Seine Frau Ilse war schon seit vielen Jahren tot, und Kinder hatten die beiden nie gehabt. Verwandte gab es so gut wie keine mehr - also bitte! Wer scherte sich schon um einen alten Mann?
Niemand, und so nahm er sich die Freiheit, zu wählen. Nein, er würde sich nicht zur Behandlung ins Krankenhaus begeben, um diesen vermeintlichen Halbgöttern in Weiß als Versuchskaninchen zu dienen. Er war Kassenpatient, somit blieb ihm die bevorzugte Behandlung durch Spitzenmediziner und mit besonderen Medikamenten versagt. Und elendig zu verrecken, das hatte Halbach nun wirklich nicht vor. Somit hatte seine Entscheidung schnell festgestanden: Er würde jegliche Behandlung ablehnen und irgendwann an den Folgen der Krankheit sterben.
Früher oder später, aber sein Schicksal legte der alte Mann mit dieser folgenschweren Entscheidung in die Hände Gottes.
Immerhin, so machte er sich Mut, starb er dann aber an den Folgen der Krankheit und nicht an den Folgen der Behandlung, die ihm nur eine Linderung auf Zeit versprachen. Heilbar war Krebs in den wenigsten Fällen, so viel wusste Halbach, der schon viele seiner Freunde durch die heimtückische Krankheit verloren hatte. Er war im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte gewesen, als er den Entschluss gefasst hatte, wenigstens die letzten Wochen und Monate seines Lebens zu genießen.
Und deshalb hatte er heute mehr als üblich getrunken, als er sich zur Herrenrunde in der Kneipe eingefunden hatte. Doch niemand hatte ihn gefragt, ob es einen Grund dafür gab, ein sicheres Zeichen dafür, wie egal er den anderen Männern war.
Verbittert schritt Hans Halbach die Steinstufen hinab.
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