Blutgrab
sie fragte sich, ob er in Schwierigkeiten steckte. Die Umsätze waren in den letzten Monaten zurückgegangen, doch er schob das alles immer auf die Rezession.
»Die Leute kaufen in schlechten Zeiten lieber zu essen und zu trinken, anstatt in Schmuck und in wertvolle Uhren zu investieren«, argumentierte er immer.
Der Zug verzögerte spürbar, rechts flog ein Backsteingebäude an der Bahn vorüber. Die Katholische Hauptschule West, einst als Gymnasium Aue erbaut. Nun rollte die Bahn in die Station am Robert-Daum-Platz ein. Der Bahnhof war modern und lichtdurchlässig. Nur wenige der alten Stationen hatten die Runderneuerung des Wahrzeichens überstanden, und nicht nur Carolin Mertens war der Meinung, dass durch die Modernisierung und den Neubau der meisten Stationen auch der alte, wenngleich auch etwas morbide Charme der Bahn für immer verloren gegangen war. Heute präsentierte sich die Bahn als modernes Verkehrsmittel, nicht mehr als Relikt aus der Kaiserzeit.
Die Türen glitten auseinander, und ein kalter Luftzug wehte in den Zug. Carolin Mertens blickte sich ein letztes Mal zu den beiden alten Damen um, schenkte ihnen sogar ein Lächeln, dann stieg sie aus und war auf dem verlassenen Bahnsteig. Ein wenig unschlüssig stand sie da und beobachtete, wie sich die Türen des Zuges schlössen und die Schwebebahn weiter nach Westen zog.
Erst, als sie ihrem Sichtfeld entschwunden war, suchte sie den Ausgang auf. Während sie die Treppen hinunterstieg, glaubte sie Schritte hinter sich zu hören. Doch das war unmöglich, hatte sie sich doch alleine auf dem Bahnsteig befunden. Sie blieb mit rasendem Herzen stehen und wandte sich um. Erwartungsgemäß lag die Treppe verlassen vor ihr. Der Straßenlärm der Tannenbergstraße und der B7 drang als gleichmäßiges Rauschen an ihre Ohren. Als sie sich wieder umwandte, hörte Carolin Mertens noch ein Geräusch: Von Westen näherte sich eine Schwebebahn, die sich unmittelbar vor der Einfahrt in die Station befand. Womöglich stammte das Geräusch, das sie so verunsichert hatte, auch von den Vibrationen, die die Bahn auf das Gerüst und damit auf die eiserne und gläserne Station übertrug.
Wahrscheinlich hatten ihr die völlig überreizten Nerven einen Streich gespielt. Carolin Mertens lauschte dem Geräusch der über ihrem Kopf einfahrenden Schwebebahn, während sich ihr Puls langsam normalisierte, dann setzte sie ihren Weg zum Ausgang an der Tannenbergstraße fort. Vor der Kreuzung am Robert-Daum-Platz staute sich der Verkehr, und ein feiner Nieselregen hatte eingesetzt, der nicht gerade dazu beitrug, die Stimmung der jungen Frau zu verbessern. Den Schirm hatte sie natürlich im Laden vergessen, und so blieb ihr nichts, als den Kragen ihrer schwarzen, hüftlangen Jacke hochzuschlagen und den Kopf so tief wie möglich zwischen die Schultern zu ziehen. Nun bereute sie es, mit der Bahn gefahren zu sein. Wäre sie geradewegs vom Geschäft in der Elberfelder Innenstadt zum Ölberg gelaufen, hätte sie ihre Wohnung wahrscheinlich sogar noch trockenen Fußes erreicht.
Während sie sich über ihre Entscheidung ärgerte, überquerte sie den Fußgängerüberweg und hatte nach wenigen Minuten schon den Deweerthschen Garten erreicht. Trist lag die kleine Grünanlage da. War der kleine Park zwischen Luisenstraße und der Briller Straße im Sommer ein beliebter Treffpunkt für Jung und Alt, so hielt sich bei diesem unwirtlichen Wetter niemand im Deweerthschen Garten auf.
Carolin Mertens fühlte sich immer noch verfolgt. Sie warf in unregelmäßigen Abständen unsichere Blicke über die Schulter, doch da war niemand, der ihr nachging.
Würde sie fortan mit dieser grundlosen Panik leben müssen? Sie fragte sich, ob das die Folgen des Überfalls waren, die mit einem derartigen Trauma verbunden waren. Vielleicht, so überlegte sie, während sie ihre Schritte beschleunigte, wäre es ratsam, ärztliche Hilfe zu suchen. Möglicherweise genügte schon das Gespräch mit einem Seelsorger. Sie beschloss, den alten Kommissar, der sie im Geschäft befragt hatte, anzurufen. Vielleicht bestand noch die Möglichkeit, einen Polizeiseelsorger zu konsultieren, der mit der Situation vertraut war.
In diesem Augenblick fürchtete die Verkäuferin, dass sie künftig bei den kleinsten Anlässen die Nerven verlieren würde. Und diese Ungewissheit bereitete ihr eine panische Angst.
Schusterstraße, 13.50 Uhr
Drei ausgetretene Stufen führten zu dem heruntergekommenen Haus mit der verblichenen
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