Blutgrab
enterte.
Die Schwebebahn war ziemlich voll. Es war früher Nachmittag, und die ersten Schulen spuckten die Kinder aus, die mit dem Wahrzeichen der Stadt nach Hause fuhren. Entsprechend hoch war der Lärmpegel in der Bahn, als Carolin Mertens am Döppersberg vergeblich nach einem freien Sitzplatz Ausschau hielt. Sie umklammerte einen Haltegriff in der Nähe der mittleren Tür, während sie sich unter den anderen Fahrgästen umblickte. Die überwiegende Mehrheit bestand tatsächlich aus Kindern und Jugendlichen. Sie unterhielten sich lautstark, lachten oder hatten weiße Ohrstöpsel, mit denen sie Musik von ihrem MP3-Player hörten. Die Außenseiter hockten in sich versunken auf einem der cremefarbenen Hartschalensitze und spielten mit ihrem Handy.
Als Carolin Mertens in diesem Alter gewesen war, war sie stolze Besitzerin eines Walkman gewesen. Diese handtaschengroßen Kassettenrekorder mit Kopfhörern, bei denen nach spätestens zwei Kassetten die Batterien Schwächelten und die Musik leierte.
Auf zwei Sitzen hockten zwei ältere Frauen, die sich auf Platt unterhielten. Carolin Mertens' Neugier war geweckt; sie verstand jedes Wort, hatte doch früher ihre Großmutter Wuppertaler Platt gesprochen. Eine Mundart, die es eigentlich gar nicht gab; die Spezialisten unterschieden das Elberfelder grundsätzlich vom Barmer Platt. Doch so geschult war Carolin Mertens' Ohr nun doch wieder nicht, dass sie die feinen Unterschiede heraushören konnte. Überhaupt war die Mundart in Wuppertal selten geworden. In ihrer Kindheit hatten die Erwachsenen fast ausschließlich »platt gekallt«. So war das gute alte »woll, nit« einem »krass, Alter« der jüngeren Generation gewichen.
Ratternd schlossen die Türen der Bahn, und mit einem dezenten Summen setzte sie sich in Fahrt.
Unter ihr die Wupper, der »Schwarze Fluss«, am Ufer die schmale Straße Schlossbleiche. Die Stadt hatte in den letzten Jahren ihr Gesicht verändert, und durch den Umbau des Döppersberg würde jemand, der längere Zeit nicht mehr in Wuppertal gewesen war, das Zentrum Elberfelds wohl bald nicht mehr wiedererkennen.
Das Grölen der Jugendlichen in der Bahn begann Carolin Mertens zu nerven, und auch die beiden älteren Damen tauschten pikierte Blicke und tuschelten.
Carolin Mertens umklammerte die Haltestange fester und schloss sekundenlang die Augen.
Ein schrecklicher Tag lag hinter ihr, nach einem schrecklichen Abend und einer schrecklichen Nacht.
Sie wusste nicht, wie es mit Nils weitergehen sollte. Der Raubüberfall hatte ihr Beziehungsproblem weit in den Hintergrund gerückt. Ein Mann war verstorben, ein junger Mann, der mit seiner Braut in ihrem Laden gewesen war, um Trauringe für die bevorstehende Hochzeit zu kaufen. Die Hochzeit würde nicht stattfinden, stattdessen würde es eine Bestattung geben. Eine Beerdigung, bei der eine junge Witwe um ihren Mann am Grab weinen würde.
Die Ereignisse der letzten Stunden überrannten Carolin Mertens. Vielleicht war es falsch gewesen, das Gespräch mit dem Seelsorger der Polizei abzulehnen. Vielleicht hätte sie sich ihm anvertrauen sollen. Nun war es zu spät. Sie war auf dem Heimweg, würde in einer Viertelstunde die Wohnungstür aufschließen und die Wände anstarren. Es gab niemanden, mit dem sie über das Erlebte sprechen konnte. Vielleicht würde sie ihre beste Freundin anrufen.
Oder sich mit Fernsehen ablenken.
Carolin Mertens überlegte, ob es gut war, sich zu betrinken. Alkohol half zu vergessen. Doch wollte sie vergessen? Sie war unsicher. Natürlich war der Überfall ein schreckliches Erlebnis, doch war es richtig, das alles zu verdrängen? Die Ereignisse würden sie in den nächsten Jahren wie ein grauer Schatten auf ihrer Seele begleiten, daran zweifelte sie nicht. Und sie wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, wie sie mit diesem Schatten umgehen sollte. Doch womöglich, so machte sie sich Mut, womöglich würde sie sich mit der Erinnerung an den Raubüberfall arrangieren. So, wie sie sich bisher mit allen Dingen im Leben arrangiert hatte.
Als sie die Augen wieder öffnete, überquerte die Schwebebahn gerade die B7. Unten herrschte der übliche Verkehr, dann lag die Wupper wieder unter der Bahn.
Brabender, ihr Chef, hatte sich äußerst emotionslos gezeigt. Zwar hatte er sich nach ihrem Befinden erkundigt, allerdings schien es eine eher rhetorische Frage gewesen zu sein. Es war für die Verkäuferin mehr als offensichtlich gewesen, dass er sich nicht für seine Mitarbeiterin interessierte, und
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