Blutheide
wollte seinen Namen wissen, doch Helen hatte ihm das Wort abgeschnitten und ihm unmissverständlich mitgeteilt, dass sie den Informanten noch nicht preisgeben könnten. Helen hatte Maximilian nie gemocht.
Maximilian. Er war ›Munich Jack‹, wie die Münchener Presse den Serientäter nannte, und sie und Helen waren seine nächsten Opfer! Katharina hörte Maximilians lustvolles Stöhnen, das sie nur zu gut kannte. Und genau das ließ den Hass und die Verzweiflung in ihr aufsteigen, die sie so dringend brauchte, um sich und Helen vielleicht noch retten zu können.
Sie öffnete die Augen und sah, was sie zuvor nur gehört hatte. Maximilian schien sie kaum noch wahrzunehmen. Zu sehr hatte ihn seine Gier im Griff. Glücklicherweise kannte Maximilian ihre Wohnung nicht so gut, wie sie es selbst tat. Katharina wusste um die rostige Stelle am Heizungsrohr, etwa in Hüfthöhe. Sie hatte sich beim Putzen immer darüber geärgert. Sie ging leicht in die Knie und schabte das Seil immer wieder an der scharfen Stelle entlang. Als sie spürte, dass die Hanffasern allmählich porös wurden, stemmte sie sich so gut es ging vom Rohr weg. Sie hatte nur wenige Millimeter Spielraum, da Maximilian die Fessel eng zugezogen hatte, doch diese Millimeter und Katharinas Kraftanstrengung während sie weiter an der rostigen Stelle schabte, reichten aus, um das Seil zum Reißen zu bringen. Katharina stürzte ohne weitere Überlegung zu ihrer Kommode, in der sie eine zweite, illegale Pistole verbarg. Sie zog die Schublade auf, holte die Pistole von ganz hinten aus ihrem Versteck hervor und schoss. Sie schoss in blinder Wut und Panik in Richtung Bett, vor dem Maximilian stand und ihr ungläubig entgegenstarrte. Nicht einmal. Viermal. Der Psychologe vermutete später, sie hätte vermutlich viermal hintereinander abgedrückt, um Maximilian für alle seine vier Taten büßen zu lassen. Die drei an den Prostituierten und seine letzte, der an Helen und ihr. Es sei ihr Unterbewusstsein gewesen. Doch diese Erklärung hatte Katharina nicht trösten können. Sie – die gestandene, bis dahin immer selbstsichere Kommissarin – war in Panik verfallen und hatte in ihrer Kurzschlusshandlung nicht nur Maximilian getroffen, sondern auch Helen. Die internen Untersuchungen, die gefolgt waren, hatten sie von jeglicher Schuld freigesprochen. Sie war selbst verletzt gewesen, hatte sich in einer lebensbedrohlichen Lage befunden und in Notwehr gehandelt. Die Kugel, die Helen getötet hatte, hatte ihre Freundin auch nicht direkt getroffen. Die Ballistik hatte nachweisen können, dass es ein Querschläger gewesen war. Eine Verkettung unglücklicher Umstände. Das alles hatte Katharina von ihren eigenen Schuldgefühlen jedoch nicht befreit. Immer wieder, bis heute, durchlebte sie den Moment nach den Schüssen. Überall war Blut geflossen. Nachdem sie sicher gewesen war, dass Maximilian sich nicht mehr rührte, hatte Katharina sich von dem Knebel befreit und die Halsschlagader der Freundin betastet, doch sie konnte keinen Puls mehr spüren. Sie hatte Helen erschossen. Wimmernd hatte sich Katharina in eine Ecke ihres Schlafzimmers gehockt und ihre Augen geschlossen. Sie war zu nichts anderem in der Lage gewesen, als sich wie in Trance hin und her zu wiegen. Mit einem Mal nahm das Wimmern zu. Nein, es war ein anderes Wimmern, das hinzu gekommen war. Helen? War ihre Freundin möglicherweise doch nicht tot? Katharina riss die Augen auf, doch sie sah wieder nur tiefe Schwärze. Beim Anblick des Nichts, das ein anderes war, als der dunkle Himmel eben, wurde Katharina wieder klar, wo sie war. Sie musste ohnmächtig gewesen sein und hatte dabei noch einmal ihr Trauma durchlebt. Denn bis auf die Weide, war alles genau so vorgefallen. Doch sie war nicht in München, nicht bei Helen, sondern eingesperrt in einem Kellerloch. Zusammen mit einem kleinen unschuldigen Mädchen, das sie hatte retten wollen. Hatte sie wieder einmal versagt? Katharina spürte, wie ihr Tränen die Wange hinunterliefen und dann musste sie husten. Ihr Mund war trocken, wie eine alte Scheibe Brot. Wieder hörte Katharina das Wimmern.
»Reiß dich zusammen, noch lebt Laura!«, sprach sie sich selbst Mut zu.
So laut, wie ihre Stimme es zuließ, rief Katharina in die Richtung aus der das Wimmern kam: »Laura, alles wird gut. Mach dir keine Sorgen. Ich … ich hol uns hier raus.«
Katharina hoffte inständig, dass sie Recht behalten sollte und fühlte in ihrer Hosentasche nach dem Feuerzeug. Es war nicht da.
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