Blutherz - Wallner, M: Blutherz
genug von Mr Lockool und seinen Fragen. Sie öffnete die Kühlraumtür und schlüpfte nach draußen. Gerade rechtzeitig, denn vom Ende des Korridors kamen ihr zwei vermummte Ärzte mit einem Wagen entgegen, auf dem sie das Spenderherz in den Operationssaal bringen würden. Sam wich nach Zimmer Nr. 4 aus, wo Mrs Abramowitsch geklingelt hatte. Samantha schloss die Tür, atmete erleichtert durch und genoss die Wärme des Krankenzimmers nach der eisigen Temperatur im Kühlraum.
»Was kann ich für Sie tun, Mrs Abramowitsch?«
Während sie der kranken Dame ihre Handtasche brachte, überlegte sie, wie die Ärzte wohl reagieren würden, wenn sie
nebenan nicht nur das kalte Herz, sondern auch den frierenden Mr Lockool vorfanden.
3
E igentlich war Samantha zu müde zum Ausgehen. Doch wenn sie sich danach richtete, war sie jeden Abend zu müde. Nach Dienstschluss trank sie einen Latte Macchiato in der Cafeteria und verschwand mit dem Personalaufzug unter der Erde. Sie betrat ihr vollgerümpeltes Zimmer, zog sich aus, duschte in dem ehemaligen Personalbad quer über dem Korridor, huschte nackt zurück, warf den Koffer aufs Bett und suchte ihre besten Sachen hervor: ein Paar knielange Jeans, darüber einen schwarzen Rock und das grüne Top mit den dünnen Trägern. Vor dem Spiegel machte sie sich zurecht und steckte ihr Haar hoch.
»Nicht übel für ein Mädel von altem schottischen Blut«, grinste sie, packte den Lippenstift ein und warf die Jacke über. Sie kehrte an die Oberfläche zurück, lief das Hauptschiff des Krankenhauses entlang zum Nordausgang und sprang als Letzte auf den Bus aus Putney Heath, der sie bis Piccadilly Circus bringen würde.
Sam starrte aus dem Fenster. In der Dunkelheit sah sie abwechselnd die erwachenden Lichter der City und sich selbst im regengesprenkelten Glas. Die große Veränderung in ihrem Leben war über Nacht gekommen.
»Was soll ich hier noch lernen?«, hatte sie ihre Eltern gefragt. »Unser Kaff ist am Aussterben. Seit die Zementfabrik zugemacht hat, ziehen die jungen Leute aus Lower Liargo fort. Es gibt keine Arbeit mehr.«
John, ihr Vater, kannte das Problem der Abwanderung. Vor Sams Geburt war er als Vikar nach Lower Liargo gekommen und übte das Priesteramt seither mit aller Hingabe aus. Samanthas Mutter Louise hatte früher als Fremdenführerin gearbeitet, allerdings konnte sie den Beruf nach der Geburt ihrer Tochter nicht länger ausüben. Die Schwangerschaft war qualvoll gewesen, danach war sie nicht mehr die Alte. Sam kannte ihre Mutter meist als blass und kraftlos, sie hielt sich am liebsten in abgedunkelten Räumen auf, und senkten sich die Herbstnebel über Lower Liargo, wurde Louise von einer unheilbaren Schwermut erfasst. Die dunklen Monate des Jahres waren für Samantha immer am schlimmsten gewesen. Die öde Schule, die Traurigkeit daheim, die tappenden Schritte der Mutter in ihrem Zimmer, der stille Vater, der alles mit gottergebenem Lächeln hinnahm. Seit ihrem fünfzehnten Geburtstag hätte Sam nur noch schreien mögen. Sie musste weg aus Lower Liargo, musste einen Job finden, mit dem sie genügend Geld verdiente, um auf eigenen Beinen zu stehen. Sie hatte ein Ass im Ärmel: ihre Tante mütterlicherseits. Tante Margret arbeitete als Oberschwester in London. Sam hatte sie angerufen, Margret war bereit gewesen zu helfen und hatte gefragt, ob die Nichte sich vorstellen könne, in einem Krankenhaus zu arbeiten. London bedeutete für Samantha den Nabel der Welt; sie hätte alles getan, um sich dort eine Existenz aufzubauen. Und so war sie Lernschwester im Chelsea and Westminster Hospital geworden.
Am Piccadilly Circus sprang Sam aus dem Bus. Es regnete und war zu kühl für Oktober. In der Shaftesbury Avenue wollte sie in ein koreanisches Restaurant eintreten, als ihr Blick auf die beleuchtete Karte fiel. Die Preise waren unglaublich, selbst eine Suppe kostete mehr als das ganze Menü in der Krankenhauskantine.
Als es ihr vor einem indischen und einem westafrikanischen Lokal genauso erging, endete ihr kulinarischer Streifzug an einer Fish-’n-Chips-Bude. Es schmeckte nicht besonders, aber hinterher war sie satt und ihre Lebensgeister waren wieder geweckt. Sie schlenderte über den Leicester Square, beschloss, ins Kino zu gehen, ihre Wahl fiel auf einen Film, in dem die Schauspieler elegante Kostüme trugen und in Stretch-Limousinen durch die Gegend fuhren.
Als Sam nach dem Film wieder auf die Straße trat, hielt genau ein solcher Schlitten vor ihr, die Lichter
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