Bluthochzeit in Prag
Valentina, als Lucek sie küßte und streichelte und sich benahm, als habe er sie aus der Hölle zurückgeholt. Krupkin wird es Tschernowskij melden, und Andrej Mironowitsch wird nicht zögern, mir noch einmal den Befehl zu geben, sofort nach Moskau zurückzukommen. Was kann ich antworten? Wie kann ich ihn überzeugen, daß ich in Prag bleiben muß? Es gibt keine Argumente mehr … nur noch den Befehl. Zurück in die Zentrale! Und man wird gehorchen müssen. Niemand widersetzt sich einem Befehl aus Moskau … es sei denn, er kehrt nie mehr nach Rußland zurück.
Nie mehr nach Rußland?
Sie warf den Kopf zurück und hatte das Gefühl, schreien zu müssen wie ein angeschossener Wolf.
Nie mehr nach Rußland … nur ein Russe versteht diesen grenzenlosen Schmerz –
*
Karel Pilny nutzte den Vorfall zu einer sensationellen Reportage aus. Er filmte das schwarze Auto und den noch immer bewußtlosen kleinen Mann auf dem Kühler. Er fotografierte den Agentenausweis und den Wald im Hintergrund, wo irgendwo in einer Burg aus zusammengefahrenen Lastwagen und Omnibussen Major Krupkin wartete, um das Teufelchen Valentina Konstantinowna Kysaskaja gehörig in die Mangel zu nehmen und wieder auf Moskauer Marionettenschnur zu spannen.
Nachdem Pilny den kleinen Mann von allen Seiten gefilmt hatte, trug er ihn in den Wagen, legte ihn auf die rückwärtige Polsterbank und zog den Zündschlüssel ab. Er steckte ihn ein. Irgendwo auf der Rückfahrt wollte er ihn wegwerfen, am besten in ein Kornfeld. Dort würde der Schlüssel frühestens bei der Ernte entdeckt werden.
»Diese Reportage wird kein Sender bringen«, sagte Pilny, als er in seinen kleinen Skoda stieg. »Aber sie kann einmal eine Sondernummer unserer Zeitung werden.« Er wendete und fuhr nach Prag zurück.
Valentina berichtete unterdessen, wie der fremde Mann an ihre Tür geklopft, seinen Ausweis gezeigt und sie aufgefordert habe, mitzukommen. Es war eine gute Geschichte, die Lucek und Pilny sofort glaubten. So etwas geschah jetzt jede Stunde in den Tagen der Rede- und Pressefreiheit, in den Wochen des politischen Frühlings, wo das Volk aus der Dumpfheit einer doktrinären Ideologie endlich erwachte, sich umsah und entdeckte, daß die Welt anders war als die Schuhspitzen, die man sich dreiundzwanzig Jahre lang betrachten mußte.
»Was hat er weiter gesagt?« fragte Lucek. »Wußte er etwas von uns? Machte er den Eindruck, als wenn er informiert sei?«
»Nichts. Er war sehr höflich, weiter nichts.« Valentina lehnte den Kopf an die Schulter Luceks. Noch immer durchschüttelte Schluchzen ab und zu ihren Körper, und sie tat nichts, das zu unterdrücken. Wenn sie aufschluchzte, fuhr auch Lucek zusammen und drückte sie fester an sich. Das tat ihr gut, aber gleichzeitig verstärkte es die Gewißheit: Ich werde nie mehr zurück nach Rußland können.
Pilny handelte mit der Vernunft, die man von Lucek in diesen Stunden nicht mehr erwarten konnte, denn er war vollauf damit beschäftigt, sein zitterndes Vögelchen zu trösten, zu streicheln und zu küssen. Zunächst fuhren sie zurück zu Valentinas Wohnung, bevor der kleine Mann vom Geheimdienst Alarm schlagen und die politische Polizei das Zimmer beschlagnahmen konnte.
Es war nicht viel, was Valentina in den Wagen Pilnys stellte. Nur drei Koffer, davon einer allerdings so schwer, als sammle sie Steine. »Es sind die Stiefel und meine Bücher«, erklärte Valentina, als Lucek stöhnend den Koffer die Treppen hinunterschleppte.
So kam es, daß Micha Lucek den Geheimsender Moskaus auf seiner Schulter wegtrug und in seine eigene Wohnung brachte. Es blieb Valentina keine andere Wahl, aber sie schwor sich, bei der nächsten Gelegenheit den Sender zu vernichten. Es würde die letzte Verbindung sein mit Rußland, die dann abriß. Nicht einmal einen Ton aus Moskau würde sie mehr hören. Rußland würde ein Land sein, so fern wie der Mond.
Es war in der Tat notwendig, schnell zu handeln. Denn eine Stunde, nachdem Valentina ihr Zimmerchen unter dem Dach geräumt hatte, hielt ein Wagen des sowjetischen Stabes vor dem Haus und drei russische Offiziere in Begleitung eines tschechischen Hauptmannes stürmten die Treppe hinauf.
Sie fanden das Zimmer leer. Nur Frau Navratilová, die Vermieterin, saß händeringend und mit der Welt hadernd auf einem einsamen Stuhl im kahlen Zimmer und betrachtete die Kronenscheine, die auf dem Tischchen gelegen hatten. Eine Miete fürs Vierteljahr, umsonst, geschenkt, ein Segen des Himmels … Gott
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