Blutholz: Historischer Roman (German Edition)
Dieses Bild, das tote Kind in der Wiege, hatte sie die ganze letzte Nacht beschäftigt, für nichts und wieder nichts. Sie würde nie mehr erfahren, wer ihre Eltern gewesen waren. Die Prophezeiungen der Alten waren Unsinn. Sie war eine lumpige, schlechte Wahrsagerin und genauso wenig eine Hexe wie Colette ihre Mutter oder der Feldwebel ihr Vater. Das Erlebnis vor seinem Grab war allein auf ihre überreizten Nerven zurückzuführen, selbst ihr Ausschlag nur ein übles Andenken an die Zeit bei der Eisenmeisterin. Größer war er geworden, hatte aber ganz aufgehört zu jucken. Riecke war zuversichtlich.
Nach vorne schauen, das war sicher das Beste. Hohe Herrschaften warteten auf ihren Wein. Vater Maurus sollte nicht umsonst so geschickt agiert haben. Wäre es nicht höchst angemessen, die Bestellungen noch vor Weihnachten zu erledigen? Wie lange wollte sie noch warten und sich mit Grübeleien über ihre Eltern die Zukunft verderben?
Barbara erhob sich von ihrem Fasssitz und griff zu einem Probierglas. Den Weißburgunder zuerst oder den Ruländer? Den 72er oder den 73er? Natürlich den Weißburgunder! Barbara öffnete den Fasshahn, konzentrierte sich auf das Fließen, den Duft. Ja, er war gut, der 72er. Ruhig und schwer stand er im Glas, war ganz rein, zog Säulen. Konnte sie überhaupt noch richtig schmecken? Schmatzen? Schnalzen? Einen Wein schlürfen, zerkauen, um die Zunge kullern lassen? Ja, dies verlernte man nicht. Barbara lächelte, seufzte. Dies war Genuss und Leben. Man kam zu sich, vergaß seinen dummen Kopf und die viel dümmeren Gedanken. Gab es ein schöneres Spiel, als einen Wein gleichmäßig kreisen zu lassen, im Handgelenk seine Wucht zu spüren? Gab es etwas Beruhigenderes, als immer wieder die Nase ins Glas zu halten, die Blume abzuschnuppern? War es nicht höchste Erfüllung zu sagen, dies ist mein Wein, aus meinen Reben, gekeltert aus meinen Trauben? Barbara fühlte eine lang entbehrte Ruhe und Zuversicht in sich wachsen. Jeder Schluck zertrümmerte ein Stück ihrer Befangenheit, jeder Schwenk im gegen die Kerze gehaltenen Glas bedeutete ein Aufleuchten ihres Gemüts, und jedes neugenetzte, fließende Säulenrund festigte ihr Vertrauen in sich selbst.
»Barbara, du wirst dir jetzt von jedem Fass ein Glas genehmigen«, sagte sie laut, »auch wenn du danach so voll bist, dass die Torwache denkt, du hättest in einem Fass geschwommen.«
Es schien ihr ratsam, nach Sorten zu trinken und nicht der Reihenfolge ihrer Fässer zu folgen. Des weiteren machte es Sinn, die Jahrgänge hintereinander zu verkosten, angefangen mit dem neuen Wein, der vollständig vergoren, aber noch trüb war, dann ihre 73er, den 72er, schließlich die Reste vom 71er Ruländer und Räuschling. Elbling und Weißburgunder dieses Jahrgangs steckten in den Mousseux-Flaschen, doch diese waren längst verkauft. Barbara schaute verächtlich auf ihre beiden Gestelle, in denen noch einige Reihen vom verhängnisvollen 72er Mousseux lagerten. Die anderen Flaschen waren alles 73er, ihre Reifezeit war in einem Monat beendet, aber Barbara hatte sich vorgenommen, das Sediment nicht eher zu entfernen, bis sie eine Erklärung für ihre Katastrophe gefunden hatte.
»Eine Sauftour durch den eigenen Keller!«, spottete sie. »Billiger geht’s nur, wenn du eingeladen bist und das Geld für das Gastgeschenk nicht rechnest. Prost Barbara!«
Gemäß ihrem Saufplan nummerierte sie alle Fässer durch und räumte alle Gerätschaften, über die sie hätte stolpern können, aus dem Weg. Dabei fiel ihr ein, dass in einer Nische noch ein paar Kanten Brot und ein Bröckchen Käse zu finden sein müssten. Zum Schluss machte sie soviel Licht, wie sie Laternen und Kerzen hatte. Sie eröffnete ihre Sauftour mit einer tiefen Verbeugung vor der Kelter und einem herzhaften Biss in ein Stück Brot. Dann griff sie sich ein neues Glas.
25
Ab dem fünften Fass begann sie sich gut zu fühlen, und vor dem sechsten erreichte sie das erste Stadium der Zufriedenheit. Streng befolgte sie ihr hübsch ausgedachtes und anzuschauendes Reglement. Bevor sie den Fasshahn aufdrehte, grüßte sie jedes Fass mit Anruf seiner entsprechenden Verkostungsnummer und machte einen elegant angedeuteten Hofknicks. War der Wein im Glas, rief sie Sorte und Jahrgang aus, stieß dann mit ihrem Glas ans Fass und wünschte sich ein betont sachliches »Zum Wohl«!
Ein klein wenig bange wurde ihr vor dem siebenten Fass, denn es lagen noch einmal so viele Fässer vor ihr, zudem reichte das Brot
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