Blutholz: Historischer Roman (German Edition)
nur eine kapitale, an einem Faden hängende Spinne.
Für einen kurzen Moment wurde sie leidlich nüchtern, und wie der Wein ihrem Geist neue Raumdimensionen vorgaukelte, verknüpfte er auch gerissene Bande. Barbaras Blick fiel nicht nur auf ihren vom Sturz aufgeschürften Fuß, sondern auch auf die noch nicht vom Sediment genommenen Mousseux-Flaschen. Und weil sie überlegt hatte, welchen Ruländerjahrgang sie noch verkosten wollte, webte sich alles zu einem Ganzen und ließ ihren weingeschärften Geist endlich die Ursachen ihres Mousseux-Desasters enträtseln.
Wäre sie bei klarem Verstand gewesen, hätte sie erschauern müssen vor Grauen. Aber da ihr Temperament bei leichter bis mittelschwerer Weintrübnis vom Sichwohlfühlen über Augenblicke tiefsten Gerührtseins zur Heiterkeit neigte, wandelte es sich bei höchstem Weinpegel zwingend zu leichtlebig ordinärer Lustigkeit. Erst einmal rappelte sie sich jedoch auf, um an ihrer aufgebeugten Wand von Fässern eine solide Rückenstütze zu finden. Doch dann schlüpften die ersten Gluckser aus ihr heraus, die nach und nach zu einem Sturzbach unsinnigster Lachgeräusche anschwollen. Sie wankte von einem Fuß auf den anderen und rollte sich an den Fässern entlang in die vermeintliche Richtung ihres »Rulnders«. Als sie irgendwann ins Leere plumpste, begann sie zu singen, weil es sie aber zu sehr anstrengte und ihr zur Melodie kein Text einfiel, begnügte sie sich mit einem »Lalala-Chevalier, oje oje oje.«
Und was hatte ihr der weingeschwängerte Kopf entdeckt? Die Geschichte einer in die Brüche gegangenen Freundschaft zwischen Blutjung und Ururalt. Über ein derartiges Verhältnis sich lustig zu machen, dies taten sogar schon die Nüchternen. Wie aber erst ein schwerbetrunkenes Weib! Barbaras Spottlust ließ sie den Weg zu ihrem Dosagefass zurückfinden, auf allen Vieren seitwärts, und weder das Märchen vom Spielmann mit seiner Rosenholzflöte noch Jacobs schwärende Wunde, weder der eklige Leichenfund noch der mysteriöse Tod des Feldwebels im Schatten der Eiche, ließen sie den bitteren Fluch erkennen, der auf ihrem Fass lastete. Stattdessen erwies sie ihm die Reverenz, indem sie sich vor ihm aufrichtete, es grüßte und dann mit derben Klatschern traktierte. Dabei mimte sie die Überlegene und verspottete das Fass.
»O wei, mon chevalier de chêne ! O wei!«, kiekste und lallte sie in einem fort. »Du baumiger Greis, mein schrunnig’s Eichlein! Hab’ ich es verletzt! Die zaate Seele!«
Zwischendrin drehte sie an irgendeinem Fasshahn, lutschte beinahe ordinär am Holzzapfen und verplemperte auf diese Weise ein paar Kannen Wein. Dann kam ihr die Idee, ob sie nicht mit ein paar Mundfontänen das »gramigste Gallefass« versöhnen könnte.
» Mon gekränkte Sauerbock«, rief sie theatralisch pathetisch: »Versöhn` wir uns! Ich mag dich doch. Drum suffel ich Enschulligung mit Ihnen.« Dann überlegte sie es sich anders, die Zeit bei der Eisenmeisterin wurde wieder lebendig. Höhnisch zeterte sie: »Feiner Freund wart Ihr, mon chêne chevalier . Aber jetzt entlavt! Ihr sauers Hols! Ich sag Euch was, mon chevalier, eifersüchig wart Ihr! Hätt’ wohl mit mein Taschentüchlein Eure Seele streicheln solln?«
Kraftlos aber selig sank sie nach dieser Strafpredigt in die Knie. In ihrem Kopf wirbelten alle Erlebnisse an der Eiche durcheinander. Meister Jonathan spielte dabei keine geringe Rolle. Immer deutlicher hörte sie ihn reden, hörte, wie er vor der Säure des frischen Holzes warnte, vor diesem gallesauren, braunschwarzen Holzsaft, der erst bei langer Lagerung an der Luft ausfloss. Was gegen den Wundbrand half, war Gift für den Wein. Hätte sie Meister Jonathan nicht so gedrängelt, wäre ihrem Chevalier seine »alberne Sauerheit« schlichtweg ausgetrocknet. Dies war die Wahrheit, und auch wenn Barbara immer mehr ins Delirium versank, stieg doch vor ihr eine goldene Zukunft auf. Gegen das Jucken an ihrem Oberschenkel half Kratzen. Wie schön, dass alles so dicht beieinanderlag. Barbara wollte nach einer Mousseux- Flasche greifen, aber sie verwandelte sich in einen Eichenast. Sie lächelte. Wusste, dass sie bereits träumte.
26
Ohne Rieckes sechsten Sinn wäre Barbara erfroren. Die Haushälterin fand ihre friedlich schnarchende Madame mitten in einer Weinlache. Es war gegen halb zehn abends. Vorsorglich hatte sie gleich eine Decke mitgenommen und ein Fläschchen mit Riechsalz, außerdem war die Burkheimer Torwache verständigt. Die möglicherweise laut
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