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Blutholz: Historischer Roman (German Edition)

Blutholz: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Blutholz: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Liebert
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nicht, aber vor dem zehnten war sie so ergriffen, dass sie weinte. In nüchterner Verfassung – nach Verkostung des erstaunlich gehaltvollen 72er Elblings – hatte sie sich aus Sicherheitsgründen vorgenommen, nur noch Sorten und Jahrgänge zu verkosten, nicht die ganze Palette ihrer inzwischen 23 Fässer. Elbling, Räuschling, Weißburgunder, Ruländer war die Reihenfolge, und dass sie vor dem 72er Weißburgunder Tränen vergoss, erschien ihr nichts weniger als unverständlich.
    Diese ruhige, bodenständige und doch beeindruckende Eleganz, diese fast schon unglaublich ausgewogene Mannigfaltigkeit im Abgang … Vater Maurus in Tennenbach hatte seinem Mantelkind zu einem Geschäft verhelfen wollen, ja, sicher, aber der gute Abt war doch auch ein weinseliger Genießer, der ihren Weißburgunder als ganz großen Wein schätzengelernt hatte. Zwar hatte Barbara ihn schon vorhin gekostet, aber erst jetzt ging ihr die Dimension seiner überragenden Klasse auf. Da konnten einem schon die Tränen kommen! Auf jeden Fall war es gut, sich nach solch einem Erlebnis ein bisschen auszuruhen. Der Ruländer würde sie Kraft kosten … die Zunge abzuspannen, dem Gaumen Rast zu gönnen und ein wenig nachzudenken: Wer würde dies nicht tun? 71er und 72er waren Auslesen! Sozusagen heilige Weine! Duellieren würde man sich, wenn sie im nächsten Herbst auf den Markt kämen! So gut waren sie!
    Barbara wurde immer stolzer, doch unterdessen passierte, was im Wesen einer Sauftour lag. Die Feuchte im Kopf nahm zu. Je länger sie dasaß, umso wunderlicher fühlte sie sich in ihrem Keller. Mit ihrem Reglement hatte sie es schon seit dem fünften Fass nicht mehr ganz so ernst genommen. Erstens, weil ihren Ohren der Anruf der Verkostungsnummer zu schrill geworden war, zweitens, weil ihr der Hofknicks vor dem achten Fass mit einem aufgeschürften Fuß entgolten wurde. Jetzt nahm sie sich vor, nur noch den Jahrgang zu verkünden. Hauptsache, sie und das Fass prosteten sich noch ordentlich zu!
    Barbara begann zu grinsen und mit dem Kopf zu wackeln, als sie wieder auf den Füßen stand. Tatsächlich, ihr Keller hatte schiefe Wände. Also war sie noch ganz bei Sinnen, denn solange ihr die Vernunft flüsterte, dass sie es in Wahrheit nicht waren, solange war noch Platz im Kopf für lächerliche vier Gläschen »Rulnänder«. Das Fass mit dem 74er schrie sie wie ein Marktweib an, und wenn es nicht so unverschämt weit vorgestanden hätte, wäre die Suche nach einem neuen Glas nicht so anstrengend gewesen.
    »Du darfst das >Zum Wohl< nicht vergessen, Barbara«, sagte sie streng, während sie in ihrem erstaunlicherweise sich immer röhrenförmiger windenden Keller gut vorankam. Die Fässer würden sicher noch ein bisschen an ihrer Stelle liegenbleiben, auf jeden Fall, das alte Glas tat’s auch noch, das auf dem Fasshocker stand. »Jetzt zurück«, kommandierte sie, »zum Rulnder, zum Zumwohlsagen.« Barbara fand heraus, dass, wenn sie sich leicht drehte, der schiefe Gang wieder gerade wurde. Allerdings verfehlte sie dabei ihre Ruländerfässer und tändelte sich erst vor ihrer Kelter wieder gerade. Also zurück. Barbara atmete tief durch, machte drei gerade Schritte, eine Drehung, verwackelte sich, als sie einem plötzlich mitten im Weg liegenden Fass ausweichen musste und fühlte, dass sie sich nicht übermäßig weh getan hatte. Gott hilft den Weinfeuchten, lallte sie vor sich hin und zog es vor, auf allen Vieren zum kostbaren »Runder« zu krabbeln. Glücklicherweise war das Glas unversehrt geblieben, und da sie das Schicksal nicht herausfordern wollte, gönnte sie sich großzügig auf drei »Runderjagänge« zu verzichten. Aber auf welche? Barbara wurde die Entscheidung abgenommen.
    Nachdem sie mit stupender Fingerfertigkeit einen Fasshahn auf- und auch wieder zugedreht, an ihrem Glas andächtig geschnuppert und einen Schluck genommen hatte, schrie sie auf und warf voller Ekel ihr Glas zu Bruch. Das erste, was ihr trunkener Geist erfasste, war die etwas sinnlose Frage, warum ausgerechnet dieser Wein verdorben war, das zweite war die blitzartige Erkenntnis, dass er aus ihrem Dosagefass sein müsse. Doch warum sie sich an diesem Fass zu schaffen gemacht hatte, war ihrer Erinnerung schon entglitten. Und als sie kurz darauf rätselte, weshalb sie sofort an ihr Dosagefass gedacht hatte, erinnerte sie sich nur noch an das seltsam knorrig verrenkte Gebilde, das sie in dem gegen das Licht gehaltenen Glas gesehen hatte. Jetzt erblickte sie in jener Richtung

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