Blutige Asche Roman
Fliesen übereifrig mit einem Spültuch zu polieren. »Ich glaube, ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann wir uns das letzte Mal normal unterhalten haben. Im Moment wird aus jedem Gespräch ein Kreuzverhör. Ich kann froh sein, dass du noch keinen Suchscheinwerfer auf mich gerichtet hast.«
»Du verstehst das völlig falsch, Mama. Wir unterhalten uns
doch ganz normal. Es könnte zumindest eine ganz normale Unterhaltung über dich und mich sein. Über das, was wirklich zählt. All die anderen Gespräche über Schnäppchenweine aus dem Supermarkt oder Liens Lidkorrektur - die sind nicht normal.«
»Wie bitte?«
»Du willst nie richtig reden. Nicht einmal jetzt, wo ich so einiges über dein Leben erfahren habe, das auch für mich wichtig ist. Wer bist du eigentlich, Mama? Ich weiß nämlich gar nicht mehr, wen ich vor mir habe.«
Meine Mutter drückte mir das Spültuch in die Hand und rannte weg. »Dann räum die Küche eben alleine auf.«
Ich sah mich um. Alles war strahlend sauber.
48
»Ich habe gute Nachrichten.«
Ich wappnete mich. Was andere als gute Nachricht bezeichneten, war oft die schlechteste Nachricht, die man sich vorstellen konnte. Aber Mos Augen strahlten dermaßen, dass ich anfing zu glauben, es könnte wirklich so sein.
»Du kommst bald auf eine neue Station. Eine Station, auf die du besser passt. Dr. Römermann möchte sich nachher mit dir unterhalten. Ich werde auch dabei sein.«
Ich nickte. Man brauchte jemanden, dem man vertrauen konnte, und ich hatte Mo.
»Soll ich dir was verraten?« Mo beugte sich vor, bis sein Gesicht ganz nah an meines herankam. Das war mir unangenehm. »Auf der neuen Station bekommst du ein größeres Zimmer. Und dreimal darfst du raten, wofür dann Platz ist.«
Ich traute mich kaum, an das zu denken, nach dem ich mich am allermeisten sehnte.
Mo ahmte mit seinen Händen einen schwimmenden Fisch nach. »Aber von mir weißt du nichts, verstanden?«
Er verließ den Aufenthaltsraum, und ich blieb allein am Fenster zurück. Ich starrte hinaus, wie so oft. Meine Fische! Hatte er tatsächlich angedeutet, dass ich meine Fische zurückbekommen würde?
Ich warf die Hände in die Luft und begann durch den Aufenthaltsraum zu rennen wie ein Fußballer, der gerade ein Tor geschossen hat. Ich johlte und rannte. Johlte und rannte, bis
Richard sich die Ohren zuhielt und »Hör auf! Hör auf!« schrie und Mo aus seinem Zimmer kam und sagte: »Ray, ich verstehe ja, dass du dich freust, aber beruhige dich bitte.«
»Ich bemüh mich«, entgegnete ich.
»Du darfst es noch niemandem sagen, versprochen?«
»Gut.«
Dr. Römermann erklärte mir, was meine Verlegung auf die neue Station zu bedeuten hatte. Die Station hieß »Autisten« und war für Leute gedacht, die nicht gut sind in Gefühlen. Genau wie ich.
Ich würde einen strafferen Tagesablauf haben und meine Therapie fortsetzen.
»Super!«, wollte ich rufen. »Aber jetzt erzählen Sie mir von meinen Fischen!« Doch weil mich Mo, der neben mir saß, nicht aus den Augen ließ, wartete ich ab.
»Bei unserem ersten Gespräch hast du eine Bitte geäußert«, sagte Dr. Römermann. »Du wolltest dein Aquarium im Zimmer haben.«
Ich beugte mich vor. »Ja? Ja? Ja?«
»Wir haben beschlossen, deiner Bitte stattzugeben.«
»Du bekommst also deine Fische wieder«, sagte Mo und zwinkerte mir überdeutlich zu.
»Aber zuerst«, sagte Dr. Römermann, »müssen wir uns die Abmessungen des Aquariums anschauen. Unter Umständen ist es zu groß, und wir gestatten dir ein Kleineres. Wäre das ein Problem?«
Ich schüttelte den Kopf. François! Maria! Hannibal! King Kong! Chili! Saturn! Venus! Peanut! Rosine! Margje!
»Alles klar«, sagte Römermann. Er setzte seine Lesebrille aus Horn auf und schrieb etwas auf seinen Notizblock. »Wir
werden dich wahrscheinlich am nächsten Dienstag verlegen. Wenn du willst, kannst du die neue Station heute mit Mo besuchen. Na, was sagst du?«
»Dann können wir gleich gucken, wo dein Aquarium hinkommt«, fügte Mo hinzu.
Eine unbeschreibliche Freude erfüllte mich. Ich schlang spontan die Arme um Mo und legte meinen Kopf auf seine Schulter.
»Na, na«, sagte Dr. Römermann und lächelte.
Mo klopfte mir auf den Rücken. »Schön, dass du dich so freust, Ray.«
Die Autisten-Station sah nicht anders aus als die Aufnahmestation. Es gab dieselbe Sitzgruppe in Blau mit feinen roten Streifen, denselben hellen Couchtisch aus Eiche, denselben Teppichboden aus ockergelbem, schwer brennbarem
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