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Blutige Asche Roman

Titel: Blutige Asche Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Pauw
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während ich beinahe rennen musste, um mit meiner Mutter Schritt zu halten.
    Es waren nicht viele Leute unterwegs. Ein einzelner Mann, der aus einem Stundenhotel eilte und in der Nacht verschwand. Junkies, die bettelten. Chinesen, die in Ledermänteln durch die Straßen liefen.
    Wir bogen in eine Gasse ein und blieben vor einem heruntergekommenen Gebäude stehen. Die Fenster waren zugenagelt, und die Hautürscheibe war eingeschlagen.
    »Wir sind da. Geh ruhig rein.«
    Ich zögerte und überlegte, was meine Mutter wohl vorhatte. Sie gab mir einen Schubs. »Beeil dich.«
    Wir betraten den Betonflur, der nach Schimmel und Schweiß roch. An die Wände hatte jemand geschmiert Fighting for peace is like fucking for virginity . »Was machen wir hier?«
    Meine Mutter antwortete nicht und schubste mich stattdessen in ein dunkles Zimmer. Es dauerte eine Weile, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Ich sah eine Zigarette aufglühen. Dann merkte ich, dass menschliche Gestalten am Boden lagen. Auf verschlissenen Matratzen, ihre mageren Körper waren nur notdürftig bekleidet. Ich bekam Gänsehaut. Was hatten wir hier zu suchen?

    Eine Gestalt, kaum mehr als Haut und Knochen, kam auf uns zu. Ihre gelben Augen quollen beinahe aus den Augenhöhlen. »Hast du was für mich?« Der Typ streckte die Hand nach uns aus.
    Meine Mutter schubste mich vor. »Da musst du sie fragen.«
    Ich war zutiefst schockiert. Ausgerechnet meine Mutter, die sich ständig Sorgen machte, ob ich mir auch vor dem Essen die Hände wusch, schubste mich einem Junkie in die Arme.
    Der Junkie kam näher. Er stank.
    »Was hast du? Her damit! Gib mir, was du hast.«
    Was, wenn er ein Messer hat?, dachte ich. Was, wenn mich meine Mutter hier allein zurücklässt?
    »Los, her damit.«
    »Mama«, jammerte ich. Sie hielt mich fest. So war mir die Möglichkeit verwehrt, auch nur einen Schritt zurückzuweichen. Ich war fünfzehn, doch noch war meine Mutter viel stärker als ich.
    Der Junkie streckte die Hand nach mir aus. Um mich anzufassen, in meinen Hosentaschen nachzusehen, ich weiß es nicht. Ich sah die Hand in Zeitlupe auf mich zukommen, die Klaue eines Aasgeiers. »Mama, bitte.«
    Als diese gelbliche, magere Hand mein Gesicht zu berühren drohte, zog mich meine Mutter zur Seite. Sie wühlte in ihrer Handtasche und zückte einen Fünfundzwanzigguldenschein. Sie warf ihn auf den Boden. »Hier«, sagte sie. »Viel Spaß. Spritz dich um den Verstand.«
    Der Junkie stürzte sich auf das Geld. Meine Mutter und ich verließen das Gebäude.
    »So, das hätten wir«, sagte sie, als wir den Voorburgwal wieder in Richtung Auto liefen, wobei uns erneut Zuhälter
und Dealer nachstarrten und die Nutten in ihren Fenstern. »Mehr habe ich dir nicht zu sagen.«
     
    Ich starrte auf das Aquarium. Auf die Koralle, die mit Liebe und Geduld gezüchtet worden war. Sie wuchs nur wenige Millimeter pro Jahr, wie viel, hängt von der Wasserqualität ab. Ray hatte einen perfekten Lebensraum für seine Fische geschaffen. Aber wer hatte sich um ihn gekümmert?
    Es war komisch, seinen Namen zu sagen. Ray, so als ob ich ihn kennen würde. Warum faszinierte er mich so?
    Ich griff nach dem Logbuch und blätterte darin. Es war überaus sorgfältig geführt worden. Ray ließ keinen Tag aus. Es gab keinerlei Tintenflecken oder Krümel. Bis ich das Jahr 1998 erreichte. Bisher hatte nie ein Fremder in das Buch geschrieben, aber in diesem Jahr stand da in kindlicher Krakelschrift der Name »King Kong«. »King Kong« und dahinter in Rays Schrift: 20. Mai. Der Name nahm drei Zeilen ein und stand in einem merkwürdigen Kontrast zu Rays ordentlicher Handschrift. Ein Kind. Ray und ein Kind.
    Die Buchstaben, die das Kind geschrieben hatte, waren zittrig, so als könnte es den Stift noch nicht richtig halten. Wie alt es wohl gewesen war? Vier? Fünf? Sechs? Und wo war es jetzt? Dass da nicht nur irgendwo ein Ray Boelens herumlief, sondern auch ein Nachkomme, fühlte sich merkwürdig an.

14
    Von nun an nahm ich jeden Tag eine Madeleine für Anna mit. Meist wurde ich in die Wohnung gelassen. Dann setzte Rosita Kaffee für mich auf, und wir unterhielten uns, bis sie sagte, dass ich gehen müsse. An anderen Tagen nahm Rosita das Gebäck durch den Türspalt an. »Heute lieber nicht, Ray.«
    Ich fragte meine Mutter um Rat. Sie erklärte mir, dass das ganz normal sei. Dass ich Rosita nicht jeden Tag besuchen könne. Niemand hat jeden Tag Zeit. Das hätte nichts mit mir zu tun. Meine Mutter hatte

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