Blutige Asche Roman
könnte sein.«
»Aber nur knapp.«
»Möglich ist es trotzdem, obwohl wir nicht das genaue Geburtsjahr deiner Oma kennen und uns auch täuschen können.«
»Wenn er mein Bruder ist, müsste ihn meine Mutter mit einundzwanzig bekommen haben.«
»Auch nicht unmöglich.«
»Das passt gut. Aber es gibt noch andere Möglichkeiten. Er könnte beispielsweise auch ein Neffe meiner Mutter sein.«
»Ich glaube, dass er dein Bruder ist«, sagte Bienie mit Nachdruck. Sie nahm einen großen Schluck Wein. »Warum hätte sich deine Mutter sonst solche Mühe gegeben, das zu verheimlichen? Und warum würde sie sich sonst so aufregen? Deine Großeltern sind längst tot. Irgendwann verjährt die Geheimhaltungspflicht.«
Ich schenkte uns Wein nach. »Ray könnte tatsächlich mein großer Bruder sein.«
»Schauen wir im Arbeitszimmer nach.«
Mir wurde schwindelig.
»Los, komm!«
Ich kicherte. »Das können wir nicht machen.«
»Du hast einen Bruder, Iris. Deine Mutter hat dir deinen Bruder vorenthalten. Du hast mir oft genug erzählt, dass du
dich als Kind einsam gefühlt hast. Ich finde, du hast ein Recht darauf, die Wahrheit zu kennen.«
Ich zögerte, aber Bienie war bereits aufgestanden. »Hör nicht länger auf deine Mutter.«
»Du hast Recht«, sagte ich schließlich.
»Weißt du, wie man ein Schloss aufbekommt?«
»Natürlich nicht.«
»Komm schon, du bist die Anwältin.«
»Und du bist Journalistin. Was heißt das jetzt?«
»Sag nicht, du hättest dir noch nie Zugang zu geheimen Dokumenten in verschlossenen Büros oder versteckten Bibliotheken verschafft?«
»So was gibt es nur im Film, meine Liebe. Außerdem bin ich total brav, das weißt du doch.«
Bienie zückte eine Haarnadel und fing an, damit im Schloss herumzustochern.
»Als ob das so aufgeht.«
»Fällt dir was Besseres ein?«
»Lass uns den Schlüssel suchen.«
»Das ist natürlich auch eine Möglichkeit.«
Meine Mutter hatte den Schlüssel zu ihrem Arbeitszimmer nicht so gut versteckt wie erwartet. Wahrscheinlich, weil sie allein lebte und nicht mehr vor einer neugierigen Tochter und einem ebensolchen Mann auf der Hut sein musste. Er lag einfach in einer der Küchenschubladen, in einer Schale mit Gummibändern, einer Pinzette und Büroklammern.
Ich drehte den Schlüssel im Schloss herum und öffnete die Tür. Mein Herz klopfte. Mein ganzes Leben hatte ich dieses Zimmer nicht betreten dürfen. Und jetzt tat ich es trotzdem.
Dort sah es noch genauso aus wie bei meinem ersten und einzigen Besuch. Derselbe Kirschholzschreibtisch. Der große Schrank, der jetzt geschlossen war. Der schwarze Bürostuhl.
»Geh rein«, flüsterte Bienie.
»Warum flüsterst du?« Ich betrat das Allerheiligste. Ganz vorsichtig, so als könnte meine Mutter jeden Moment hinter der Tür hervorspringen. Es roch ein bisschen muffig, so als würde hier nur selten gelüftet.
Bienie öffnete den Schrank. »Hast du nächste Woche schon was vor?« Die Regale waren voller Ordner, Zeitschriftenstapel und Schachteln. Ich nahm willkürlich einen Ordner aus dem Schrank und stieß auf einen Stapel Telefonrechnungen von 1995. »Wer hebt denn so was auf?«
Eine halbe Stunde später waren wir nicht viel weiter als acht Jahrgänge Libelle , zwanzig Jahre Ablage und einen Stapel vergilbter Heftchen mit Kreuzworträtseln. »Hat deine Mutter sonst keine Hobbys?«, fragte Bienie.
»Wieso, das siehst du doch: Sie sammelt Altpapier.« Ich griff nach einem verblichenen blauen Pappordner, der unter einer Schachtel mit herausgerissenen Rezepten gelegen hatte.
»Soll ich mal mit dem Schreibtisch anfangen?«
»Nur zu.« Auf dem Ordner klebte ein Etikett, auf dem »Ray« stand. Ich starrte kurz auf die drei Buchstaben, um mich davon zu überzeugen, dass ich mich nicht täuschte. »Meine Güte, Bien, schau nur.« Ich klappte den Ordner auf. Er war leer. »Oh«, sagte ich enttäuscht.
»Gib mal her«, sagte Bien, und ich gab ihr den Ordner. Auch sie klappte ihn auf und schüttelte ihn. Ein Foto fiel heraus.
Ich hob es auf. Meine Hände zitterten ein wenig. Auf dem Foto war ein ungefähr fünfjähriger Junge mit zerzausten
braunen Haaren zu sehen. Er saß auf einem roten Fahrrad und lachte geistesabwesend.
Bienie legte mir die Hand auf die Schulter. »Geht es?«
»Er sieht aus wie …«, hob ich an.
»Stimmt. Aron wie er leibt und lebt. Die Haare, der Blick, und schau dir erst mal die Beine an!«
Wir betrachteten die staksigen Beine des kleinen Jungen, die aus einer kurzen Hose
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