Blutige Seilfahrt im Warndt
vor seinen Augen, als sei es gerade erst passiert. Ein Stollen war eingebrochen. In diesem Stollen waren acht Bergmänner vermutet worden, die alle zu einer Partie gehört und dort gearbeitet hatten. Doch am nächsten Tag hatte sich herausgestellt, dass zehn Männer vermisst wurden. Zwei Bergmänner, die gar nicht in dieser Partie arbeiten sollten, blieben ebenfalls spurlos verschwunden. Die Namen waren ihm wieder eingefallen: Winfried Bode und Karl Fechter.
Die Aussagen der übrigen Männer aus der Mannschaft hatten sich als widersprüchlich erwiesen, weshalb der damalige Amtsleiter Wollny Kullmann unter Tage geschickt hatte, um sich selbst ein Bild davon zu machen. Doch die Welt da unten war für Kullmann zu fremd gewesen, um tatsächlich Hinweise auf ein Verbrechen feststellen zu können. Deshalb hatte er dem Bergamt zugestimmt, das den Fall als Unfall deklarierte.
Und nun war genau in diesem Bergwerk wieder etwas passiert. Aber niemand kam auf ihn zu, um ihn zu dem damaligen Sachverhalt zu fragen.
War es möglich, dass sie noch gar nicht auf den alten, fast elf Jahre zurückliegenden Fall, gestoßen sind?
»Meine Damen und Herren. Der Zug TGV 9566 aus Mannheim in Richtung Paris wird zehn Minuten später eintreffen. Wie bitten um Ihr Verständnis«, lautete die scheppernde Durchsage durch den Lautsprecher am Bahnsteig.
Kullmann schaute auf. Er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er vergessen hatte, wo er war. Rasch drehte er sich um und ging ein Stück zurück. Denn sobald Anke und ihre Tochter aus dem Zug steigen würden, wollte er, dass sie ihn sahen. Es sollte eine Überraschung sein. Weder er noch seine Frau Martha hatten ein Sterbenswörtchen darüber verloren.
Er behielt die Uhr im Auge und verfolgte die sich ständig ändernden Meldungen auf den Anzeigetafeln, bis endlich der erlösende Gong ertönte und eine Durchsage folgte: »Meine Damen und Herren. Auf Gleis 12 fährt jetzt ein der TGV 9566 von Mannheim über Saarbrücken nach Paris. Abfahrt um 11.15 Uhr. Nächster Halt Paris, Gare de l’Est. Bitte Vorsicht bei der Einfahrt.«
Sechs Wochen hatte er Anke und ihre Tochter Lisa nicht mehr gesehen. Sechs lange Wochen. Sie hatte darauf bestanden, dass niemand sie besuchte. Das hatte er schweren Herzens akzeptiert.
Schon von weitem konnte er den Zug sehen. Quietschend rollte er ein, verlangsamte sein Tempo, bis er endlich stehen blieb. Die Schiebetüren öffneten sich.
Lisa sprang die hohe Stufe hinunter und rannte auf Kullmann zu.
»Opa Norbert! Opa Norbert!«, rief sie so laut, dass es jeder am Bahnsteig hören konnte.
Kullmann bückte sich nach ihr und fing sie auf, als sie auf ihn zusprang. Ihre Haare waren kurz geschnitten und standen wild vom Kopf ab. Kullmann konnte nicht anders, er musste mit seiner freien Hand den Blondschopf durchwühlen. Lisas Augen funkelten vor Freude Ein Anblick, der Kullmanns Herz höher schlagen ließ. Es sah so aus, als hätte Anke mit dieser Kur ihr Ziel erreicht.
Plötzlich stand Anke vor ihm.
Auch ihre Haare waren kurz geschnitten, wodurch sie zehn Jahre jünger aussah.
Kullmann setzte Lisa ab und umarmte seine frühere Mitarbeiterin herzlich.
Anke lachte und meinte: »Du tust so, als sei ich hundert Jahre lang fort gewesen.«
»So kommt es mir vor«, gab Kullmann zu. »Sechs Wochen sind eine lange Zeit.«
»Aber es war eine gute Zeit für Lisa und mich.«
»Das sehe ich. Und es tut mir gut, euch so glücklich und entspannt zu sehen.«
Sie verließen das Bahngleis, schoben sich durch das Gedränge der vielen Menschen, bis sie auf dem Parkplatz ankamen.
Kullmann verstaute das Gepäck im Kofferraum seines Wagens, während Anke dafür sorgte, dass Lisa sich auf dem Rücksitz anschnallte.
»Ich bin ganz viel gewommen!«, rief Lisa aus dem Fond des Wagens.
»Das heißt geschwommen«, korrigierte Anke.
»Meine ich ja!«
»Dann bist du eine Wasserratte geworden«, kommentierte Kullmann.
Lisa lachte über das lustige Wort.
»Sie hat in der Kur das Schwimmen für sich entdeckt«, meinte Anke. »Mal sehen, wo ich hier mit ihr hingehen kann.«
»Das Calypso-Bad, in der Nähe des Messegeländes«, schlug Kullmann vor.
»Stimmt. Ich denke, dort ist es genau richtig für Lisa. Vor allem, wenn ich vormittags mit ihr hingehen kann.«
»Vormittags musst du arbeiten«, hielt Kullmann dagegen.
»Ich überlege, die nächste Woche noch Urlaub zu machen.«
Kullmann verschlug es die Sprache. Er konzentrierte sich auf den dichten Verkehr und versuchte dabei,
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