Blutige Seilfahrt im Warndt
dazwischen.
»Warum?«
»Er holt Anke und Lisa vom Bahnhof ab. Lass sie doch erst mal ankommen.«
»Touché!«, gab Schnur grinsend zurück.
Anton Grewe saß seit Stunden ungestört in seinem Büro. Das Telefon stand still. Keine E-Mails auf dem Rechner. Nichts.
Die Kollegen ließen ihn in Ruhe. Das war ihm auch recht so, denn er musste sich mental auf diese schwere, körperliche Arbeit einstellen. Im Streb soll er als Schildfahrer tätig werden, weil Peter Dempler in dieser Funktion gearbeitet hatte.
Grewe sah die Maschinen vor seinem geistigen Auge, rief sich die Arbeit ins Gedächtnis zurück und erkannte mit Schrecken, dass er im Lauf der Jahre eine ganze Menge vergessen hatte. Zum Glück blieb ihm noch das ganze Wochenende, um sich wieder damit vertraut zu machen. Er würde die Zeit nutzen.
Außerdem überlegte er, wo seine Bergmannskluft abgeblieben war. Er durfte sich keine neue besorgen, das würde auffallen. Die alte, abgetragene war genau richtig. Jürgen Schnur hatte beschlossen, dass Grewe vorübergehend wieder zu seinen Eltern ins Warndtdorf ziehen sollte. Das passte perfekt zu der Vita, die für diese Aktion für ihn erstellt worden war.
Er musste glaubhaft rüberbringen, dass er sich von seiner Frau im Pütt getrennt hatte und deshalb ins Saarland zurückgekommen war. Hoffentlich funktionierte das. Denn kein Bergmann kehrte in Zeiten wie diesen dem Ruhrgebiet den Rücken. Dort liefen die Bergwerke noch mindestens acht Jahre, während hier im Saarland in zwei Jahren Schluss sein sollte.
Deshalb hatte Schnur beschlossen, dass Grewe in sein Elternhaus einzog. Das war ein äußerst unangenehmer Teil seiner Arbeit gewesen, den alten Herrschaften klarzumachen, dass er sich als Maulwurf unter die Männer schlich, um den Mörder zu finden.
Grewe spürte Zweifel, ob sein Vater auch wirklich den Mund halten würde. Dessen Loyalität zu den Kameraden reichte sehr weit. Hoffentlich gab es auch einen Funken Loyalität seinem eigenen Sohn gegenüber, auch wenn der sich als untüchtiger Bergmann erwiesen hatte.
Grewe spürte, wie seine Hände zitterten.
Alle diese alten Gefühle, die er erfolgreich verdrängt hatte, kehrten wieder zurück. In einer Heftigkeit, die ihn erschreckte. Er musste in diesem Fall funktionieren. Große Verantwortung lag auf ihm, die mehr von ihm verlangte, als alte Befindlichkeiten zu beklagen. Also musste er nach vorne schauen und durfte sich nicht ständig an den alten Geschichten aufreiben.
Eine Entschlossenheit breite sich in ihm aus, die ihn mit neuer Energie erfüllte. Er nahm den Telefonhörer in die Hand und begann die Nummer seiner Eltern zu wählen. Doch mit jeder Taste, die er drückte, schwand seine Energie ein bisschen mehr, bis seine Handinnenfläche feucht wurde und er schnell wieder auflegte, bevor es durchklingeln konnte.
Das enttäuschte Gesicht seines Vaters tauchte ganz unvermittelt vor seinem geistigen Auge auf. Die Traurigkeit und Resignation, die Grewe darin gesehen hatte, als er ihm gestanden hatte, dass dieser Job einfach nichts für ihn war. Für seinen Vater war eine Welt zusammengebrochen. Grewe hatte mit einer alten Tradition gebrochen – hatte sich vom Bergmannsberuf abgewandt. Außer ihm gab es keinen zweiten Sohn, der diese Rolle hätte übernehmen können.
Und heute – zwanzig Jahre später – wollte er in die Grube hinabsteigen, um einen Kameraden zu finden, der sein mörderisches Spiel trieb. Dabei war niemandem klar, ob es wirklich ein Bergmann war, der Peter Dempler umgebracht hatte. Dieser heikle Auftrag basierte nur auf Vermutungen. Auf Annahmen der Kriminalpolizei, weil niemand eine andere Lösung für diesen Mordfall wusste.
Kein Bergmann ging davon aus, dass einer der ihren zu so einer Tat fähig wäre. Auch dieser Aspekt erschwerte es ihm, seinen Vater von der Notwendigkeit dieser Aktion zu überzeugen.
Grewe ahnte, was er seinem Vater damit antat. Denn der alte Herr wurde in diese Ermittlung indirekt mit einbezogen, was für ihn nichts anderes als Verrat am Kameraden bedeutete.
Grewe schaute auf die Uhr und erschrak. Wie lange saß er schon tatenlos am Schreibtisch und brütete vor sich hin? Er musste endlich mit den Vorbereitungen beginnen.
Wieder hob er die Hand ans Telefon. Seine Bewegungen fühlten sich steif an, als seien seine Gelenke eingerostet. Doch dieses Mal gelang es ihm, die Nummer seines Vaters zu wählen und auch durchklingeln zu lassen. Schon nach dem zweiten Läuten hob sein Vater ab.
Erik saß in seinem
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