Blutige Seilfahrt im Warndt
sollte das Leben von seiner schönsten Seite sehen.«
»Ich denke, wir sollten beim Thema bleiben«, funkte Erik dazwischen. »Sie behaupten also, nicht zu wissen, ob Ihr Vater noch lebt?«
»Genau das! Wie ich sagte: Würde er noch leben, wäre er zu mir zurückgekommen.«
»Was macht Sie so sicher?«
»Alles«, entgegnete Tim trotzig. »Wir haben uns gut verstanden.«
»Klar! So ein Ereignis – vor allem ein Ereignis, das so lange zurückliegt – kann schon mal dazu führen, dass man die Wirklichkeit verklärt.« Erik blieb hartnäckig.
»So ist es aber nicht«, beharrte Tim. »Mein Vater hat mir immer von seiner Arbeit erzählt, ich ihm von der Schule. Das waren echte Gespräche und keine Monologe. Wir konnten uns zuhören und über alles diskutieren. Wie konnten uns gegenseitig helfen, wenn einer mal nicht mehr weiterwusste. Wie waren immer füreinander da. An seinen freien Tagen sind wir zum Angeln rausgefahren oder auf den Fußballplatz. Manchmal gingen wir auch ins Kino. Er war mehr Freund als Vater. Und dann war ganz plötzlich alles vorbei.« Tims Miene wurde wieder finster. »Ich musste zu meiner Mutter zurück, die mich genauso mochte wie ich sie – nämlich gar nicht. Aber zum Glück hatte ich einen guten Einfall. Durch die Halbwaisenrente konnten wir diese Wohnung behalten. Der Vorschlag, dass ich hier lebe – obwohl ich noch keine Achtzehn war – und sie weiterhin ihr Lotterleben durchziehen konnte, hat der Alten gut gefallen. Also haben wir uns so arrangiert und vor den Behörden den Mund gehalten.«
»Kann es sein, dass Sie sehr nostalgisch veranlagt sind?«, fragte Anke.
Auf den verwirrten Blick ihres Gegenübers erklärte sie ihre Frage: »Die Wohnung sieht so aus, als sei hier seit dem Verschwinden Ihres Vaters nichts mehr verändert worden.«
Nun lachte Tim laut. Als er sich beruhigte, meinte er: »Stimmt! Irgendwie glaube ich manchmal sogar noch, den Duft meines Vaters hier drin zu riechen.«
Das war für Anke der Anlass, aufzustehen und diese unheimliche Wohnung zu verlassen. Erik hatte Mühe, ihr bei dem Tempo zu folgen.
Zuerst tauchten aus dem bunten Laub ein stählerner Förderturm und dann eine Lagerhalle auf. Der Schacht Lauterbach. Die Polizeibeamten gerieten ins Staunen. Auch Grewe riss die Augen weit auf. Er hatte von diesem Schacht bisher noch nichts gehört.
»Das gibt es doch nicht«, stellte Schnur fest. »Von der Straße aus ist absolut nichts zu sehen. Dieser Ausgang ist ja perfekt geeignet für geheime Unternehmungen. Niemand kann hier etwas bemerken, wenn sich jemand davonschleichen will.«
Michael Bonhoff nahm einen Schlüssel aus seiner Hosentasche. Erstaunt fragte Grewe: »Du hast einen Schlüssel für diesen Schacht?«
»Ja! Als der damalige Schachthauer in Pension ging, hatte ich keine Gelegenheit mehr, ihm den Schlüssel zurückzugeben.«
Sie näherten sich dem grünen Förderturm, den an manchen Stellen schon der Rost zierte.
»Vertrauenerweckend sieht das aber nicht aus«, stellte Schnur sofort fest.
»Trotzdem ist er noch voll funktionsfähig. Dieser Schacht reicht bis zur sechsten Sohle und wird immer noch genutzt.«
Kullmann grinste und meinte: »Also ich sehe da kein Problem. Können wir mit dem Korb runterfahren?«
Schnur hielt die Luft an. Zögerlich meinte er: »Wir haben keine Helme dabei!«
»Was soll schon passieren?«, wehrte Kullmann ab. »Sie sagen doch selbst, dass die Männer hier gelegentlich rein-oder rausfahren, wenn sie sich untertägig gerade in diesem Bereich aufhalten.«
»Sie gefallen mir«, jubelte die Staatsanwältin, deren Neugierde sie mit an diesen Ort getrieben hatte. »Sie haben Ihre Abenteuerlust nie verloren, was?«
»Sie wohl auch nicht«, entgegnete Kullmann mit einem Lächeln, das so charmant war, wie es Schnur an seinem ehemaligen Chef noch nie gesehen hatte.
»Ich kann Ihnen den Korb zeigen. Aber runterfahren werden wir auf keinen Fall. Das ist viel zu gefährlich«, sagte Bonhoff.
Mit enttäuschtem Gesicht meinte die Staatsanwältin: »Sehr vernünftig – auch wenn mich die Abenteuerlust gepackt hat. Es wäre ein viel zu großes Risiko.«
»Warum ist dieser Förderturm soweit von den anderen Schächten entfernt?«, fragte Schnur erleichtert.
»Schacht Lauterbach ist ein ausziehender Schacht. Der wurde nur gebaut, um das Feld Lauterbach zu erschließen.«
»Viel erschlossen wurde hier aber nicht«, meinte Kullmann, schaute sich um und sah nur Vegetation.
»Dann gibt es noch den Schacht in St. Charles.
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