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Blutige Seilfahrt im Warndt

Blutige Seilfahrt im Warndt

Titel: Blutige Seilfahrt im Warndt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Schwab
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nach oben zu fahren. Mit einem Satz schwang er sich auf das laufende Band. Auf der fünften Sohle sprang er wie am Vortag rechtzeitig ab und versteckte sich in einer Nische, in der er die Männer beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden.
    Doch sofort bereute er, was er getan hatte.
    Lieber wäre ihm gewesen, das nicht zu sehen, was er dort sah. Michael Bonhoff stand mitten unter ihnen und diskutierte fleißig mit allen. Das sah nicht so aus, als wäre er das erste Mal dabei. Auch sah Bonhoff nicht wie ein Außenseiter aus, was er ihm immer vorgejammert hatte. Vielmehr wie einer von ihnen.
    Welches Spiel spielte er mit ihm?
    Mehr wollte Grewe nicht mehr wissen. Sein anfänglicher Eifer hatte sich in Nichts aufgelöst. Unruhe und Zweifel machten sich in ihm breit. Unauffällig verschwand er wieder im Bandberg und legte den ganzen Rückweg zu Fuß zurück, weil auf dem Unterband keine Personenbeförderung möglich war. Unten auf Sohle Sechs angekommen, wäre er fast von Hans Rach umgerannt worden, der wie von Furien gehetzt aus dem schmalen Tunnel heraus gestürmt kam.
    »Was ist mit dir los?«, fragte Grewe.
    Das Gesicht des Bergmannes war blass, was Grewe selbst durch die Schmutzschicht erkennen konnte. Seine Augen waren weit aufgerissen, als er antwortete: »Wenn ich dir das sage, hältst du mich auch noch für verrückt.«
    »Das weiß du nicht«, widersprach Grewe.
    »Doch! Keiner glaubt, mir. Ich glaube es ja selbst nicht.«
    »Dann probier es doch aus«, versuchte es Grewe weiter. Es musste ihm doch gelingen, irgendetwas zu erfahren.
    Rach atmete tief durch. Erst jetzt sah Grewe, dass der Mann zitterte. Behutsam ging er auf ihn zu und meinte: »Hey! Du sagst doch selbst immer: ›Kameraden lässt man nicht im Stich!‹ Also kannst du dich mir ruhig anvertrauen. Ich lasse dich nicht im Stich.« Meine Güte, dachte sich Grewe, als er das ausgesprochen hatte. Er hätte Pfarrer werden können.
    Doch wie es aussah, zeigten seine Worte Wirkung. Rach druckste herum und meinte dann endlich: »Scheiße Mann! Wo hast du gelernt, einen so vollzuquatschen?«
    Grewe winkte ab und wollte gehen, doch dann rückte er mit der Sprache heraus: »Ich traue meinen eigenen Augen nicht mehr.«
    »Warum? Was hast du gesehen?«
    »Wenn du jetzt lachst, trete ich dir in den Arsch!«
    »Ich lache nicht«, versprach Grewe hoch und heilig, weil er bereits etwas ahnte. »Ganz bestimmt nicht.«
    »Mit ist ein Toter über den Weg gelaufen.«
    Grewe war über diese Formulierung so überrascht, dass er einen Moment brauchte, bis er kapierte.
    »Du glaubst, dass du Karl Fechter gesehen hast?«, fragte er ins Blaue hinein.
    Rach riss die Augen weit auf und fragte zurück: »Wie kommst du so schnell darauf? Hast du ihn auch gesehen?«
    Doch Grewe konnte nicht mehr antworten. Der Schacht Lauterbach fiel ihm ein. Von Schnur hatte er erfahren, dass dort – außer seinen eigenen – keine weiteren Fingerabdrücke gefunden worden waren. Und nun fragte er sich, wie dieser Mann am Einsatzkommando, das den Schacht observierte, vorbeikommen konnte.
    Er schauderte, als er sich bei dem Gedanken erwischte, er könnte es tatsächlich mit einem Phantom zu tun haben …

Die Kantine der Landespolizeidirektion war groß und kahl. Die gesamte Seitenwand bestand aus Glas, die Stühle waren unbequem. Dafür konnte sich niemand über das Essen beklagen.
    Mit seinem Vorschlag, während der Mittagspause in der Kantine beim Essen die Besprechung fortzuführen, hatte Schnur alle überrascht. Sein Leben hatte sich verändert – und zwar grundlegend, was keinem in seiner Abteilung entging. Niemals hätte er vorher einen Fuß in diese Kantine gesetzt. Immerzu hatte er auf das gute Essen seiner Frau geschworen. Lieber hatte er den Tag mit belegten Broten gefristet und sich seinen Hunger für den Feierabend aufgespart. Doch das schien Vergangenheit zu sein. Und alle ahnten, warum.
    Andrea hatte sich für Kassler mit Sauerkraut und Kartoffeln entschieden. Als ihr Teller leer war, begann sie zu berichten: »Gestern Abend habe ich von Peter Demplers Witwe endlich die erhoffte Information bekommen.«
    »Das klingt gut«, murmelte Schnur mit vollem Mund.
    »Sie war zwar sehr wütend, weil sie niemals von einem Unfall ausging. Sie empfindet das als Verrat an der Loyalität ihres Mannes gegenüber seinen Kameraden. Und wie wir alle wissen, plaudern wütende Menschen mehr aus, als sie eigentlich wollen.«
    »Du bist die perfekte Psychologin«, lobte Schnur.
    Andrea errötete.

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