Blutige Seilfahrt im Warndt
Frau machte ihn wahnsinnig. Nicht nur, dass sie das Haus schon fast steril hielt – hinzu kam, dass sie alle Fotos ihrer verstorbenen Tochter jedes Mal auf Hochglanz polierte. Wäre nicht das Glas des Bilderrahmens davor, hätte sie die Farbe längst weggewischt.
Inzwischen wusste er, dass seine Frau Annas Tod niemals überwunden hatte. Dabei war es für alle Familienmitglieder eine Erleichterung gewesen, als Anna endlich erlöst worden war. In einen Rollstuhl gefesselt, ohne sprechen zu können und ohne die Fähigkeit, sich zu bewegen, wäre das Leid dieses Mädchen nur in die Länge gezogen worden. Und das der Familie auch. Aber seine Frau war gegen alle diese Argumente immun. Nichts konnte sie in ihrer Trauer besänftigen.
Er hörte, wie seine Frau ein Kinderlied summte. Er schaute zurück. Sie rieb gerade mit einem feuchten Tuch über Annas Portrait.
Rasch wandte er seinen Blick auf den Kamin im Wohnzimmer, wo ein übergroßes Foto der Grube Warndt prangte. Bisher war es ihm gelungen, allen Überredungsversuchen seiner Frau zu trotzen und dieses Bild an seinem Platz zu lassen. Bei dem Anblick der Grube kamen gute alte Erinnerungen in ihm hoch.
Plötzlich erhellte sich alles im Raum. Er schaute hinaus und sah die Sonne hinter den Wolken auftauchen. Sie gab dem Anblick vor dem Fenster einen freundlichen Anstrich. Die Mädchen waren aus seinem Blickfeld verschwunden. Stattdessen konnte er Georg Remmark und Paolo Tremante dort sehen. Wie immer redete der Italiener, wobei er wie wild mit den Händen herumfuchtelte. Der Steiger fischte in aller Ruhe eine Zigarette aus der Jackentasche und zündete sie an.
Helmer wurde schwermütig bei dem Anblick. Schorsch, der stets grantelnde Steiger, und Amore, der liebestolle Italiener, waren die Söhne seiner Kameraden. Sie hatten ihre guten Eigenschaften an ihre Nachkommen weitervererbt.
Die Tür des gegenüberliegenden Hauses schlug zu. Helmer lenkte seinen Blick in diese Richtung und sah Hans Rach das Haus verlassen und die beiden Kameraden ansteuern. Auch er war wie sein Vater Bergmann geworden. Immer loyal, immer korrekt und immer um einen guten Zusammenhalt unter den Kameraden bemüht. Genau wie sein Vater.
Nicht mehr viele von ihnen waren übrig. Fehlte nur noch Mimose, Michael Bonhoff, der Reservierte unter ihnen. Er hatte die Bergmannsiedlung vor einigen Jahren verlassen, um nach Saarbrücken zu ziehen. Er suchte die Anonymität. Helmer schmunzelte. Jeder wusste doch, was Bonhoff wirklich beschäftigte.
Viele Söhne seiner Kameraden waren in der Grube tödlich verunglückt.
Er erinnerte sich an Peter Dempler, den Unentschlossenen. Bei ihm hatte niemand gewusst, wo er wirklich dran war. Seine Meinungen und Ansichten waren so wechselhaft wie das Wetter. Oder Harald Stark, der seinem Namen alle Ehre gemacht hatte. Groß und stark wie ein Bär und dazu noch aufbrausend wie ein Orkan. Als es gerade ihn erwischt hatte, konnte es keiner glauben.
In solchen Augenblicken hatte Helmer seine Kameraden nicht mehr beneiden können, denn die Trauer um ihre Söhne war groß. Auch er war traurig gewesen. Der Verlust dieser guten Männer hatte ihn sehr geschmerzt. Und doch gab es nichts, was ihn seinen eigenen Schmerz hätte vergessen lassen können.
Sein Sohn Anton hatte sich von der jahrhundertelangen Tradition abgewandt, hatte seine Familie und den Bergmannsberuf verhöhnt, indem er einfach gekündigt hatte, um zur Polizei zu gehen.
Helmer hatte sich in dieser kleinen Gemeinschaft nicht mehr wohl gefühlt. Hatte befürchtet, nicht mehr dazuzugehören. Doch es war anders gekommen. Seine Kameraden hatten auch weiterhin zu ihm gestanden. Ihre Loyalität blieb unvermindert bestehen. Das war das Schönste in Helmers Leben. Eine Kameradschaft, die über normale Freundschaft hinausging. Sie gehörten zusammen. Sie waren eins – wie eine echte Familie.
Und nun war sein Sohn zurückgekehrt, um einen Keil in diese verschworene Gemeinschaft zu treiben. Um die Männer auszuspionieren, die damals wie heute seine Kameraden waren. Männer, die füreinander durchs Feuer gingen. Männer, mit deren Vätern Helmer eine echte Freundschaft verband.
Und er musste dieses falsche Spiel mitspielen. Seine Nackenhaare stellten sich auf.
Sein Sohn war nach der Schicht mal wieder nicht nach Hause gekommen. Inzwischen kannte Helmer Antons Gewohnheiten. Direkt nach der Schicht ging er zur Polizei, um dort Bericht zu erstatten. Um haarklein alles zu verraten, was unter Tage passierte.
Was hatte er
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