Blutige Seilfahrt im Warndt
damit hätte sie Norbert Kullmann enttäuscht. Und das wollte sie nicht. Ihr ehemaliger Chef und Mentor war im Laufe der Jahre so etwas wie ihr Ersatzvater und Lisas Ersatzopa geworden. Dieser Zusammenhalt gab Anke all das, was sie in ihrer richtigen Familie niemals erlebt hatte. Das Gefühl, dazuzugehören, wichtig zu sein und vor allem so akzeptiert zu sein, wie sie war. Deshalb war ihr Kullmanns Ansinnen, die Arbeit sofort nach der Kur wieder aufzunehmen, wichtig gewesen. Diesen Mann wollte sie auf keinen Fall enttäuschen.
Und nun schleppte sie sich lustlos zu Schnurs Büro, aus dem neben dem Kaffeeduft auch die Stimmen der Kollegen drangen. Deutlich konnte sie Kullmanns Bassstimme heraushören. Er war also schon vor ihr eingetroffen. Darüber musste sie nun doch wieder schmunzeln.
Als sie das Büro betrat, sah sie, dass sie die letzte war. Sie schloss die Tür und die Besprechung konnte beginnen.
»Sind wir vollzählig?«, fragte Schnur und schaute in die Ruhe.
»Anton Grewe fehlt noch«, erkannte Kullmann.
»Der ist eben nach Hause gefahren«, meinte Anke. »Ob er wirklich nochmal zurückkommt, um an der Besprechung teilzunehmen, kann ich mir nicht vorstellen.«
»Ich habe ihn auf dem Handy nicht erreicht«, fügte Schnur hinzu. »Ich probiere es später nochmal. Also fangen wir einfach ohne ihn an.«
»Ich habe Peter Demplers Witwe angerufen und sie dazu befragt, ob sie oder ihr Mann zur Polizei gehen wollten«, meldete Andrea sofort. »Sie sagte, dass sie nie über eine Anzeige gesprochen hätten.«
»Hast du nur mit ihr gesprochen?«
»Nein. Auch mit der Witwe von Alois Witzke. Sie weiß nicht mehr, ob sie überhaupt über sowas nachgedacht hätten. Der Tod ihres Mannes hätte alles andere unwichtig gemacht.«
Schnur grummelte: »Damit scheidet unser Motiv aus.«
Gemurmel machte sich breit, weil die Ermittlungen mal wieder ins Stocken gerieten.
Anke rief: »Anton hat herausgefunden, dass Karl Fechter tatsächlich medizinische Kenntnisse besaß. Er war als Nothelfer unter Tage eingesetzt. Diese Männer werden extra für medizinische Notfälle ausgebildet.«
»Das ist wirklich interessant«, meinte Schnur.
»Ich habe meine Zweifel, ob das wirklich interessant ist«, widersprach Kullmann. »Oder glaubst du ernsthaft, dass dieser Mann schon elf Jahre unter Tage lebt und dort Angst und Schrecken verbreitet? Das passt eher in einen Gruselfilm. Aber nicht in die Wirklichkeit.«
»Es ist wirklich schwer zu glauben. Aber wenn wir alles zusammennehmen, ist es auch nicht ganz undenkbar«, wehrte sich Schnur.
»Ich finde das, was wir heute im Gespräch mit Siegfried Hemmerling herausgefunden haben, wesentlich interessanter«, beharrte Kullmann.
»Was habt ihr denn herausgefunden?«, fragte Erik neugierig.
»Der Maschinist hat uns unwissentlich eine Vorstellung davon gegeben, wie Unbefugte unter Tage gelangen können, ohne dass es auffällt«, antwortete Schnur.
»Und wie?«
»Siegfried Hemmerling steckt mit ihnen unter einer Decke. Er lässt die Männer rein und raus fahren, ohne es zu melden.«
»Raffiniert«, erkannte Erik. »Wenn das so ist, ist es nicht schwer herauszubekommen, wer alles dazugehört. Diese Männer haben alle etwa zur gleichen Zeit in der Grube angefangen, sind alle ungefähr im gleichen Alter und werden nach der Schließung mit Sicherheit kein Interesse mehr daran haben, eine Umschulung durchzuführen.«
»Gut kombiniert«, erkannte Kullmann und nickte anerkennend mit dem Kopf. »Mit dem Geld wollten sie sich wohl ihren Lebensabend verschönern.«
Kullmann nickte. »Nicht nur das Alter verbindet diese Männer, sondern auch die Partie, in der sie arbeiten. Sie gehören bzw. gehörten alle einer Partie an, nämlich der ehemaligen Partie von Karl Fechter, die nach dessen Tod Georg Remmark übernommen hat. Und allen Opfern wurde kurz vor ihrem Tod viel Geld gestohlen. Das sagt uns doch, dass das Motiv in dem Geld liegen könnte, und dass nur diese Partie einen florierenden Handel unter Tage betreibt.«
»Wurde bei Karl Fechter auch eingebrochen?« Diese Frage richtete Schnur an Anke.
»Nein.«
»Dann fällt er aus dem Schema heraus, das wir gerade erstellt haben.«
»Hinzu kommt, dass Bonhoff erwähnt hat, die beteiligten Männer, die den Stoff besorgen, seien aus anderen Partien«, fügte Erik an.
»Um welchen Stoff handelt es sich in unserem Fall eigentlich?«, fragte Schnur dazwischen.
»Der Stoff nennt sich Makla. Eine Kautabakmischung, die Halluzinationen hervorrufen
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