Blutige Seilfahrt im Warndt
Anwesenheitsliste führen oder arbeiten?«
Sofort ging Grewe an seinen Platz und bediente die Maschine. Doch es gelang ihm nicht, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Ständig schaute er sich um, als könnte er eine Antwort in diesem engen, staubigen Streb unter den verrußten Männern finden. Niemand schien Bonhoffs Abwesenheit zu wundern. Oder wussten alle, was los war, nur Grewe nicht? Er versuchte, Hans Rachs Blick einzufangen. Er war immer der Vernünftigste unter ihnen gewesen. Bestimmt konnte er ihm eine Auskunft geben. Doch der bemerkte Grewes Bemühungen nicht. Die anderen Kameraden wichen seinem Blick aus und drehten sich demonstrativ weg.
Grewes Adrenalinspiegel stieg an. Ihm wurde schlecht. Was geschah hier? Er musste weg von hier, musste sich überlegen, was er als nächstes tun konnte. Die Schilde bedienen gehörte nicht zu seinen Aufgaben, weshalb er hier heruntergeschickt worden war.
Zum Glück fiel ihm eine Ausrede ein: Der Abortkübel und wo der stand, wusste er. Er meldete sich bei Remmark ab, doch anstatt ihn gehen zu lassen, schrie der Steiger: »Ein Bergmann hat vollgefressen und leergeschissen auf die Arbeit zu kommen! Hast du das auf dem Pütt verlernt? Schaltet man dort die Maschinen ab und geht aufs Scheißhaus lange Sitzungen halten?«
»Ich habe Probleme mit dem Magen. Wenn ich dir alles vollkotzen soll …«, versuchte es Grewe.
»Geh verdammt noch mal an den Bandberg! Von dort gelangt das Zeug in die Kohlenwäsche. Das machen hier alle so, also kannst du das auch!«
Grewe ergriff die Flucht. Am oberen Antrieb angekommen, umgab ihn tosender Lärm. Die Kohlenbrocken fielen vom Band in den Trichter und von dort auf das nächste Band.
Keine Menschenseele war zu sehen. Grewe steuerte die Richtung an, die zum Gustavschacht führte, wobei er nicht wusste, was er tun sollte. Mit jedem Meter, den er zurücklegte, wurde die Geräuschkulisse leiser, bis nur noch seine eigenen Schritte zu hören waren. Auch wurde es immer finsterer. Beleuchtet wurde diese Strecke nur noch spärlich, weil hier nicht ständig gearbeitet wurde. Trotzdem konnte er das schwarze Loch des Wetterstollens schon von weitem erkennen. Er verlangsamte seine Schritte. Es gelang ihm nicht, stehenzubleiben. Das schwarze Loch zog ihn magisch an.
Mit seiner Taschenlampe leuchtete er in den Stollen hinein. Er war kerzengerade und verdammt niedrig. Der Stollen führte steil nach oben. Wie Grewe wusste, endete er dicht am Gustavschacht. Es wäre nicht einfach, über diesen Weg auf die vierte Sohle zu gelangen. Aber unmöglich war es auch nicht. Er kniete sich nieder und wollte gerade hineinklettern, als er ein scharrendes Geräusch hinter sich hörte.
Erschrocken drehte er sich um.
In der Dunkelheit zeichnete sich die Silhouette eines Bergmanns ab. Er war groß und kräftig. Seine Gestalt wirkte furchteinflößend. Grewe wagte nicht, sich zu regen.
Im gleichen Augenblick drehte sich der Mann von ihm weg. Nur den Bruchteil einer Sekunde konnte Grewe sein Gesicht sehen und spürte sofort, dass er ihn kannte. Dann war er aus seinem Blickfeld verschwunden.
Wie versteinert kniete er immer noch vor dem Wetterstollen. Plötzlich wusste er wieder, wie Karl Fechter ausgesehen hatte. Riesengroß und ein Bär von einem Mann. Sein kantiges Gesicht und seine glühenden Augen hatten Entschlossenheit ausgestrahlt.
Und dieser Mann war Karl Fechter.
Er war sich ganz sicher.
Schnur fühlte sich unausgeschlafen und müde. Erst im Büro bekam er die Gelegenheit, sich zu rasieren. Seine roten Bartstoppeln leuchteten schon in der unteren Gesichtshälfte. Während er sich Schaum auftrug, beschloss er, Grewe nicht mehr länger undercover arbeiten zu lassen. Inzwischen war eine Arbeitswoche vergangen und sie hatten genügend Informationen. Die Situation könnte eskalieren und das wollte Schnur auf keinen Fall riskieren. Streifen für Streifen zog er die Rasierklinge über sein Kinn, bis er sich sicher fühlte, dass keine Spuren seines roten Bartes mehr zu sehen waren.
Plötzlich klingelte das Telefon.
Er hatte in der letzten Nacht genau den Fehler gemacht, vor dem er sich selbst immer gewarnt hatte. Er war in Ann-Kathrins Armen in ihrem warmen Bett eingeschlafen und erst heute Morgen wieder aufgewacht. Deshalb konnte er sich denken, wer dort anrief.
Die Geräusche im Flur vor seinem Büro verrieten ihm, dass seine Mitarbeiter alle schon anwesend waren. Also musste er abheben, bevor jemand von ihnen hereinschaute, um nachzusehen, wo er
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