Blutige Spuren
die Laurel-und-Hardy-Melodie, als sie die Stufen zum Loft von Sebastian Seesand in Neukölln hinaufstieg. Sie fand die Selbstverulkung gerechtfertigt. Schließlich hatte sie zum zweiten Mal hintereinander die Waffe vergessen. Seit Jahren nicht gebraucht. Schwer. Drückt nur. Und trotzdem … Heute vielleicht nicht, aber irgendwann könnte sie mir fehlen.
Noch auf dem Weg hierher hatte sie nicht gewusst, was sie in dieser Wohnung noch suchen sollte und noch finden könnte. Nein, eigentlich fürchtete sie, noch mehr Puzzleteile zu finden. Teile eines Puzzles, das immer größer wurde, dessen Teile allerdings nicht zueinanderpassten.
Doch jetzt hatte sie eine Idee. Ich muss mir Seesand vorstellen, wie er sich noch vor Kurzem in diesem großen Raum bewegt hat. Wie stand er am Fenster? Was hat er gesehen? Hat er ab und zu die Wendeltreppe benutzt? Hat er das Saxophon gespielt? Wann ist er durch diesen Vorhang gegangen? Wie sah der Raum aus der Perspektive seines Bettes aus? War er manchmal der amerikanische Präsident?
Vielleicht steigere ich mich in eine Sache hinein, die es nicht wert ist, dachte sie. Das zufällige Opfer einer Messerstecherei. Oder eines Amokläufers.
Nein, Sebastian Seesand, du bist nicht zufällig im Wald gewesen, dort, wo das Messer tobte. Du bist einer, der nie etwas aus Zufall gemacht hat.
Saskia nickte sich selbst zu, als sie die Anlagen zu den Steuererklärungen der letzten Jahre fand. Auch für das laufende Jahr hatte Frank Huth Quittungen und Rechnungen aufbewahrt, jede von ihnen in einer Folie. Auf jeder Restaurant-Rechnung sauber aufgelistet, aus welchem Anlass er mit wem ein Geschäftsessen hatte. Der Zuhälter.
Aber was heißt » sauber aufgelistet « ? Wie zuverlässig sind die Angaben? Sauber war die Schrift, aber den Buchstaben war anzumerken, dass Huth kein geborener, sondern ein gewordener Pedant war. Gibt es überhaupt geborene Pedanten? Saskia fielen die Nonnen ihrer Kindheit ein. Sie mochten die einzigen wirklichen Pedantinnen gewesen sein, die immer schon so waren, uninfiziert von der Geburt an.
Es gab zu viele Rechnungen, um sie in aller Schnelle auf bekannte oder wenigstens wiederkehrende Namen durchzusehen. Etwas für die Wache. Für eine der vielen Barbaras bei der Polizei. Aber wahrscheinlich muss ich das wieder selbst machen. Bevor ich lang und breit erklärt habe, worauf zu achten ist und was ich will, bin ich lieber selbst die Barbara.
Es gab einen gelben Ordner, in dem Huth Arbeitsaufträge verzeichnet hatte. Oder waren es Lieferungen? Sie setzte sich an den blitzblanken Esstisch und blätterte. Verschiedene Unternehmen hatten Huth Geld überwiesen. Die Kopien seiner Rechnungen wiesen unterschiedlich hohe Beträge auf.
Für meine Bemühungen erlaube ich mir, Ihnen ein Entgelt gemäß Vertrag vom … in Rechnung zu stellen.
Wo waren die Verträge? Was liefert ein Zuhälter – oder wen? Und seit wann auf Rechnung? Vielleicht ist er der einzige Zuhälter, der Quittungen ausstellt. Schickt wahrscheinlich auch Mahnungen mit Angabe der Mahnstufe.
Saskia stand auf, ging in die Küche, ließ das Wasser einige Momente laufen und trank dann ein paar Schlucke. Gab es noch Zuhälter? Oder handelte es sich nicht vielmehr um einen aussterbenden Berufszweig? Zuhälter wurden nicht nur durch selbstbewusste Frauen ersetzt, die für sich selbst sorgten, oder durch Bordellbesitzerinnen, sondern auch durch Schleuser, die die Frauen mit Versprechungen auf ein besseres Leben nach Deutschland lockten, ihnen die Papiere wegnahmen und sie zur Prostitution zwangen.
Sie wählte drei Ordner mit Zahlungsverkehr und nahm sich vor, sie genau durchzugehen, bis sie ein Bild hatte. Diese ganzen Zahlen! Stell dir einfach vor, du musst dreimal den Rosenkranz beten. Geht schon.
Beim Blick auf die Wände und an die Decke in Sebastian Seesands Wohnung war Isabel etwas aufgefallen. Einzelne Kabel wanderten an den Wänden hinauf und waren in die hohe Decke des Lofts gebohrt. Darüber lag ein weiteres Stockwerk. Wer würde so viele Antennen- oder Satellitenkabel aufs Dach führen? Und alles über die Räume des Mieters über ihm.
Sie stand der Hintertür gerade nahe, öffnete sie und beschloss, die verrostete Wendeltreppe nach oben zu nehmen. Mit der einen Hand fest am Geländer, mit der anderen an der Treppenspindel, suchte sie auf jeder Stufe stabil aussehende Stellen. Dabei war sie so vorsichtig wie Neil Armstrong beim Betreten des Mondes.
Es nieselte. Der Wind war scharf. Eine Etage höher
Weitere Kostenlose Bücher