Blutige Spuren
fand sie die gleiche Stahltür wie bei Seesand. Ohne Namen – aber wer bringt schon ein Namensschild am Hintereingang an? Sie folgte einer Eingebung und probierte Seesands Schlüssel an dieser Wohnung aus. Vielleicht trieb sie auch der Wunsch an, schnell wieder ins Warme zu kommen und nicht mehr vom Absturz bedroht zu sein. Als einer der Schlüssel ins Schloss glitt, hielt sie inne und dachte erneut an ihre Waffe, die sie vergessen hatte.
Aber wieso passte der Schlüssel? Wenn Seesand tatsächlich allein in seinem riesigen Loft wohnte, wozu brauchte er noch ein weiteres in derselben Größe?
Was erwartet mich in der oberen Wohnung? Hundert illegale Asylbewerber? Über Holzbalken gehängte Därme? Ein Lager mit Holzkisten wie in diesem Orson-Welles-Film? Die Bundeslade. Konzentrier dich …!
Isabel öffnete die Tür und trat ein. Auf den ersten Blick war das Loft ähnlich bunt und vollgestellt wie das darunter. Aber es war kleiner – oder es gab Zwischenwände. Wenn die Staatsanwaltschaft mitbekommt, dass ich in eine andere Wohnung gehe … Muss mir was Gutes einfallen lassen. Gut ist, wenn das hier alles Seesand gehörte.
Saskia musste ihre Ergebnisse sortieren. Es waren viele. Frank Huth hatte notiert und aufgelistet, welche Dienstleistungen er erbracht hatte, im Rahmen wohlgedrechselter Verträge, deren Kopien gestempelt, abgezeichnet und teilweise mit Erklärungen in Druckbuchstaben versehen waren. Die Vertragspartner hießen Phantasia, Touchable oder Triple-X-Showview. Saskia fand kein Indiz dafür, dass Huths Leistung in der Vermittlung von Frauen bestand – jedenfalls nicht in den bis dahin durchgesehenen Unterlagen. Offenbar hatte er Kataloge oder Hefte geliefert, vielleicht auch einschlägige Filme.
Gedanklich machte Saskia einen zweiten Stapel. Huth hatte sich anschließend auf einen Escortservice verlegt. Sie hatte keine Vorstellung davon, wie man so etwas organisiert.
Vor vielen Jahren, zu einer Zeit, die der Jugend unmittelbar folgte, hatte sie einmal phantasiert, ob es nicht ein interessanter Job sein könnte, für das Essengehen mit einem Mann, das Erscheinen auf einer Ausstellung oder einer Cocktailparty und für ein bisschen berufsmäßiges Flirten viel Geld zu bekommen – ein Vielfaches dessen, was sie in den Ferien in der Fabrik verdiente. Vielleicht hätte sie den Gedanken weiterverfolgt, wenn sie sich damals ihrer Attraktivität sicherer gewesen wäre. Vielleicht hatte sie aber auch erkannt, dass das Gedankenspiel von den vielen charmanten, attraktiven und nach ihr verrückten Männern, die ihr aber nicht zu nahe kommen würden und für die sie sich nicht prostituieren müsste, von der Realität richtiggestellt werden würde. Jedenfalls waren es nicht die Bedenken ihrer treu zur einen Kirche stehenden Mutter gewesen, die sie davon abgehalten hatten, der Neugierde zu folgen.
An der Längswand des Lofts befand sich eine Apparatur in Isabels Größe, die Kamera und Projektor in einem zu sein schien. Am Boden standen mehrere Videorekorder, Kabel waren stümperhaft mit Klebeband die Apparatur hinaufgeführt worden. In Höhe des Okulars war eine Spiegelplatte angebracht.
Im rechten Winkel zur Längswand waren Stelltafeln aufgerichtet wie die, die im unteren Loft Teile des Kanzleramtes abbildeten. Schwarze Decken waren darübergeworfen. Beim Herumgehen fiel Isabel auf, dass die Bildwände zu einem kleinen Raum aufgebaut waren. Die Motive der Innenseiten zeigten das Interieur eines Schlosses. In der Mitte stand ein großer weißer Schreibtisch, daneben zwei Ständer mit blau-gelben Flaggen.
Isabel stellte sich hinter den Schreibtisch. Man hatte den Eindruck, in einem Repräsentationssaal zu sitzen. Sie wollte es jetzt wissen und zog alle schwarzen Decken herunter. Ja, so war es. Wer hier saß oder stand, der war ein König. Direkt vor ihr in der Kulisse gab es eine leinwandartige Einlassung. Isabel folgerte, dass sich über die ominöse Apparatur nebenan ein Bild oder ein Film einspiegeln ließ. Bringt es etwas, die Videobänder anzusehen?
Sie fluchte auf Portugiesisch. In ihrer Muttersprache kannte sie die besseren Flüche, und sie konnte sich befreiter zotig geben, weil die Zensur in ihrer deutschen Gehirnhälfte sie nicht verstand. Sie wollte nicht länger herumtasten. Die Geheimniskrämerei dieses Raumes störte sie, das Theater, das der Tote veranstaltet hatte.
Theater, dachte sie. Seesand hat zumindest früher Stücke verfasst. Das hier sind Kulissen. Weißes Haus, Kanzleramt, ein
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