Blutige Spuren
etwas über die Zeit damals zu lernen. Zum Beispiel haben wir ›Maikäfer, flieg‹ gehört. Kennen Sie das? «
Sternenberg wurde ungeduldig. » Ja, das kenne ich. «
» Maikäfer, flieg – dein Vater ist im Krieg … Das war der Krieg gegen die Schweden. Das wusste ich nicht. Ich wusste gar nicht, dass die Schweden so weit nach Deutschland reingekommen sind. Es ging da um die Schlacht von Breitenfeld … «
» Ja, und am Fehrbelliner Platz haben wir sie dann geschlagen und mit der U-Bahn nach Hause abgeschoben. Bitte kommen Sie zum Punkt, Barbara, ich bin auf der Autobahn. «
» Also, die Szenarien bei Herrn Seesand sind ein Sammelsurium aus Realitäten, und deshalb kann Isabels Annahme nicht stimmen, dass es ein Lernprogramm ist. Es gibt Rollenbeschreibungen für die Nebenfiguren, ganz exakt, aber ohne vorgeschriebene Dialoge. Tarek nennt sie Exposés. Das Problem ist, die Szenarien haben kein vorgezeichnetes Ziel. Es scheint auf die Mitspieler anzukommen, was sie aus dem Setting machen. Auf die gleiche Weise kann man auch Bundeskanzler und amerikanischer Präsident spielen. Wobei … Also, es gibt bei allem eine ganze Portion Neonazi-Kram. «
» Hm? Was heißt das? «
» … sind wir uns nicht einig. Ich glaube, dass sich da Leute richtig ausgetobt haben. Den Führer spielen im Weißen Haus oder so was. Ganz primitive Sache. Die anderen glauben, jemand wollte ›Macht‹ spielen, und ein bisschen Faschismus würde immer zu solchen Machtspielen dazugehören. Meinen sie, so ungefähr. «
» Hm, sonderbar. Interessante Ausbeute. Sonst noch was? «
» Ja … Wir haben ein ganzes Lager mit Bildwänden gefunden, alle neun bis zehn Meter lang. Man kann sie zu einem Halbrund biegen und in eine Ecke des Lofts klemmen. Anhand von Skizzen haben wir herausgefunden, dass sich eine Person in diesen Halbkreis hineinsetzen kann, sodass sie das jeweilige Bild vor sich hat. Etwas primitiv, aber so denkt man, man ist auf einer Terrasse in Italien oder am Meer oder in einem Kloster. Tarek meint, es wäre ein Diarama. «
» Diorama. Das meint Tarek? Tja, der ist schlau. «
» Finde ich auch. « Sie stockte. » Das meinten Sie nicht so ernst, oder? «
» Also Dioramen, gemalte Hintergründe. Und da sitzen Leute drin, um sich etwas vorzumachen … «
» Die Skizzen zeigen noch einen zweiten Platz, also, für eine zweite Person. Tarek vermutet … Also, wir meinen, dass es sich sozusagen um kleine Szenarien gehandelt hat. Mit einem Gesprächspartner. «
» Beichtstuhl … «, murmelte Sternenberg.
» Bitte? Haben Sie Beichtstuhl gesagt? Das ist irre, es gibt wirklich auch einen Beichtstuhl darunter. «
» Aha. Und was noch? «
» Eine Gefängniszelle. Eine Arztpraxis. Das Innere eines Panzers und eines U-Bootes. Einen Luftschutzbunker. Puh, was war noch dabei? Ach ja, eine Kapitänskajüte aus dem Mittelalter und das Deck einer Luxusyacht. Und ein Puff – sogar gleich ’ne ganze Reihe davon. «
» Moment mal, habt ihr das weiterverfolgt? «
» Was? Den Puff? Klar. Tarek und Saskia waren ganz versessen darauf, wollten es ausprobieren. Isabel bestand darauf, dass wir zuerst eines der großen Szenarien durchgehen. «
» Ich glaube, ich muss mir das ansehen. Aber heute werde ich es nicht schaffen. Ich muss zu einer Fernsehsendung und mich vorher noch mal kämmen … Vielleicht sollte ich mir Gedanken machen, was ich eigentlich sagen will. Auch wenn’s wahrscheinlich nicht drauf ankommt. «
» Hab’ schon gehört. Der Sender hat angerufen und wollte ein Foto von Ihnen. Wir haben gesagt, dass wir keins hätten. Obwohl es wohl welche gibt. Wir wollten nicht vorgreifen. Und? Schon aufgeregt? Ich könnte so was nicht. «
» Ich auch nicht, Barbara. Ich glaube, ich werde nervös sein. «
» Stellen Sie sich vor, es wäre eine Kulisse wie bei Seesand. Alles nur ein virtuelles Spiel. «
Er schmunzelte. » Danke, Barbara. Ich vermute, ich wäre nicht der Einzige, der das wirklich glaubt. Aber das mit dem … Diese Bordell-Szenarien, da stehen also auch Betten und so? «
» Nein. In den Skizzen war davon nichts. Nur zwei Stühle. Fast jedes Mal. Komisch, nicht? «
» Könnte das nicht trotzdem ein Anhaltspunkt sein? « , fragte Sternenberg. » Beichtstuhl und Bordell. Priester und Hure. Zu wem geht jemand, wenn er sich anonym aussprechen will? «
» Ja, haben wir uns auch gedacht. Aber dazu passen die Gefängniszelle und die Yacht eher gar nicht. «
Kai Sternenberg spürte seinen Unmut. Warum fragte diese Frau ihn, was
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