Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutige Spuren

Blutige Spuren

Titel: Blutige Spuren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Liemann
Vom Netzwerk:
sie längst schon geklärt hatten? Bevor er Übellauniges von sich geben konnte, reflektierte er die Situation. Du bist genervt wegen heute Abend. Und wegen Anja angespannt. Lass es nicht an Barbara aus. Sie ist als Kriminalmeisterin noch unerfahren, dafür kann sie nichts. Manchmal ist es gut und hilfreich, vorher nachzudenken.
    » Danke für die Info « , sagte er. » Dann mal weiter, die Spur ist interessant. «
    » Ihre Tochter hat angerufen. «
    » Was? « Es ruckelte im Wagen, er hatte unwillkürlich die Bremse getreten. Er sah in den Rückspiegel. Der Pkw hinter ihm war so nah, dass er erkennen konnte, wie der Fahrer verärgert den Kopf schüttelte.
    » Meine Tochter? Was wollte sie? «
    » Hat sie nicht gesagt. «
    » Verdammt noch mal, warum sagen Sie das erst jetzt? Wenn es wichtig ist? « Er war laut und kochte und wollte schon abbrechen. » Sie hat nichts gesagt? «
    » Nein. «
    » Haben Sie schon mal was von Prioritäten gehört? Vielleicht holen Sie das noch mal an Ihrer Polizeischule nach! Und rufen Sie mich nicht sonntags an, wenn Sie keine Ergebnisse haben. «
    » Ja. «
    » Haben Sie verstanden? «
    » Ja. «
    » Also … «
    So viel zu meiner Kunst des Reflektierens, dachte er und stöhnte. Der Pkw überholte, und der Fahrer strafte ihn mit seinem Blick, anstatt selbst auf die Fahrbahn vor ihm zu achten.
    Und jetzt muss ich mich auch noch bei einer jungen Kriminalmeisterin für einen unberechtigten Ausraster entschuldigen.
    Als er zu Hause den Fahrstuhl in seine Dachgeschosswohnung nehmen wollte, stand ein Sessel im Lift, und die Tür machte keine Anstalt, sich zu schließen.
    » Ummzuch « , sagte ein junger Mann lapidar. Er sah aus wie ein magersüchtiger DJ .
    Sternenberg nahm die Treppen im Laufschritt. Oben klingelte er und öffnete gleichzeitig mit dem Schlüssel die Wohnungstür. » Anja? «
    Tatsächlich lag unter der Garderobe ihr kleiner Rucksack. Sternenberg schaute in die Küche. Auf dem Tisch standen Einkaufstüten, eine war umgefallen. Die Kühlschranktür stand offen, es tropfte aus dem Eisfach.
    Das Badezimmer war offen, Anja hatte Schmutzwäsche neben die Wanne gelegt.
    Im Wohnzimmer war nichts von ihr zu sehen.
    Also im Schlafzimmer. Wenn sie nach Berlin kam, was selten genug der Fall war, dann hatte sie meist in seinem Bett geschlafen, und er wechselte ins Wohnzimmer.
    Als er das Zimmer öffnete, sah er Anja auf dem Bett liegen. Das erste Gefühl war Erleichterung.
    Sie hatte einen Kopfhörer auf, lag auf dem Rücken, ein Bein über das andere geschlagen. Sie nahm ihn nicht sofort wahr. Dann zuckte sie zusammen und saß aufrecht im Bett.
    » Hey, Töchterchen! « Er ging auf sie zu, aber etwas hielt ihn davon ab, sie wie gewohnt in die Arme zu schließen und eine wilde, kurze gegenseitige Erdrückungsorgie zu feiern.
    Sie hatte die Haare zu einem Knoten gebunden, aber viele Strähnen fielen heraus. Noch mehr, als sie sich den Kopfhörer abnahm – ihn regelrecht herunterriss. Sie hatte geweint, wenn auch nicht eben erst. Und sie war wütend bis zum Anschlag. Er kannte das allzu gut, aber es war mittlerweile schon Jahre her, dass er es das letzte Mal bei ihr erlebt hatte.
    Sie wandte sich zum Fenster und starrte hinaus. Da war wieder das verhasste Gefühl: Ihm ging es sofort schlecht, weil es ihr schlecht ging. Als würde er selbst vom Weinen noch nachschluchzen. Es war nicht nur die Anstrengung des Treppensteigens. Sie würde entweder zusammenbrechen oder explodieren, das war ihm klar. In dieser Lage fiel ihm nichts Intelligentes ein.
    » Ich habe den Kühlschrank zugemacht, Schätzchen. « Er hätte sich ohrfeigen können. Kühlschrank!
    Sie drehte sich zu ihm um. Für eine Sekunde glaubte er, sie würde lächeln wollen. Er hoffte, sie könnten ein bisschen albern und sich doch noch in die Arme fallen. Aber es war eine Mischung aus Wut, Trauer und Verzweiflung. Er verstand gar nichts. Es war ein Ausdruck, den er bei ihr so noch nie gesehen hatte. Vielleicht einmal, als sie entdeckte, dass ihre Mutter eine alte, auseinandergefallene Puppe in den Müll geworfen hatte. Dieses Bild war plötzlich präsent.
    » Schön, dass du hier bist, Töchterchen. Was ist passiert? Es geht dir schlecht, oder? Was ist? «
    Sie stand wortlos da, mittlerweile neben dem Bett. Wieder ging ihm ein unnützer Gedanke durch den Kopf. Sie ist größer als ich. Warum ist mir das vorher noch nie aufgefallen? Sie ist doch schon ein paar Jahre ausgewachsen.
    » Töchterchen … «
    Sie griff sich den Discman

Weitere Kostenlose Bücher