Blutige Spuren
ist! Dass du ein Jude bist! Dass wir unser Leben lang nur so getan haben, als wären wir christlich! « Sie wurde leise und schluchzte. » Ihr habt uns dieses Theater vorgespielt. Ihr habt uns die ganze Zeit betrogen. Ihr wolltet uns keine jüdische Kindheit zumuten, oder was? Muss man das heute noch? « Sie sah ihn eindringlich und mit nassen Augen an. » Braucht man heute noch einen Arier-Nachweis? Müssen wir sonst ins KZ ? Dad? «
» Anja, hör mir einen Moment zu, nur eine Sekunde. Okay? Bitte! Ich habe … ich schwöre dir … ich habe überhaupt keine Ahnung, wovon du sprichst. «
Ihr schossen die Tränen übers Gesicht.
» Anja … « Er legte sein Gesicht in seine Hände, dann knetete er es. » Anja … Ich verstehe es nicht, weil ich nicht weiß, wie du darauf kommst. Wir haben euch nichts vorgemacht. Ich bin evangelisch getauft, deine Großeltern sind evangelisch und die eurer Mutter auch. Wie kommst du darauf, dass wir Juden sind? «
Sie ging ans Fenster und sprach mit dokumentarischer Stimme. » Die Pässe wurden gefälscht. Die Nazis haben zehntausende Namen arisiert. Natürlich nur von denen, die richtige Deutsche waren. Aus einem polnischen Cellersinski wurde Cello. Und aus Sternberg, dem typisch jüdischen Stern-Berg, wurde Sternenberg. Etwas liederlich, aber wirkungsvoll. Man hatte mitbekommen, dass einige aus der Familie – Onkel Paul zum Beispiel – ins KZ mussten … «
» Onkel Paul war Kommunist « , sagte er.
Sie ließ sich nicht beirren. » Und der Bruder deines Vaters, Erhard? «
» Er war bei den Zeugen Jehovas. «
Anja drehte sich um. » Falsch informiert, mein Lieber. Wir sind eine jüdische Familie. Haben uns von den Nazis arisieren lassen. Keine Ahnung, was man dafür tun musste. Kann man sich ja denken. Immerhin leben wir vielleicht nur deshalb. Du und ich und Tatjana. Aber warum müsst ihr das Spiel weiterspielen, mehr als sechzig Jahre danach? Und euch belügen? Und uns belügen? Du hast deine Töchter belogen, Kai Sternberg! Oder dich selbst. «
Jetzt war er es, der wortlos aus dem Zimmer ging.
17
Die Information stimmte: Zur abendlichen Talkshow erschien auch ein Vertreter des Bundesinnenministeriums. Dieser Vertreter war der Bundesinnenminister. Er kam während der Vorbesprechung mit seinen Bodyguards ins Studio geschwebt und grüßte alle Anwesenden einzeln. Sternenberg hatte den Eindruck, freundlich bis herzlich angesehen zu werden.
Er selbst fühlte sich in dem runden Studio mit Blick durch kahlastige Bäume auf die Gedächtniskirche nicht wirklich anwesend. Er war eigentlich noch zu Hause und versuchte herauszubekommen, wie seine Tochter auf die Idee gekommen war, von ihm belogen worden zu sein.
Jemand kam noch einmal mit einem Kosmetikbausch, bepuderte die Ohren und die Lippen und ermahnte ihn, bis nach der Sendung sein Gesicht nicht mehr zu berühren. In der Zwischenzeit hatte der Innenminister das Wort ergriffen und brachte alle zum Lachen. An eine Vorbesprechung war nicht mehr zu denken.
Ich hätte bei Anja bleiben sollen, dachte Sternenberg. Das Publikum wurde begrüßt und auf die Spielregeln eingeschworen. Mikrofone wurden ausgetauscht, Kameraleute unterhielten sich und lachten.
Dann schaute man gemeinsam und belustigt auf die Monitore, auf denen die Vorsendung abmoderiert wurde. Die Mikrofonleute trollten sich, einer kam noch einmal hereingeschossen und nestelte an einer Steckverbindung, die zwischen dem Parteienforscher und dem Vertreter des Steuerzahlervereins lag.
» Also, ich mache die Begrüßung, stelle Sie vor, die Kamera zeigt jeden von Ihnen kurz im Bild, dann können Sie nicken, dann kündige ich den Einspieler an, und dann haben Sie noch eine kurze Galgenfrist. «
Alle lachten, bis auf den Innenminister. Der richtete sich in seinem Stuhl auf, verschränkte die Arme und ging zu einem Betonblick über.
Aus der Regie kam ein Wort, das Sternenberg nicht verstand. Daraufhin begann die Musik, und die Moderatorin lächelte ins Leere – vermutlich in Richtung Kamera. Als die Reihe an ihm war, lautete der Kommentar: » Vom Tatort direkt ins Studio – Hauptkommissar Kai Sternenberg von der Mordkommission in der Hauptstadt. « Höflicher Applaus.
Der » Einspieler « lief auf den Monitoren. » Beamte abschaffen? « stand in großen Buchstaben da, die langsam zerflossen, während man Büromenschen sah, die Berge von Papier stempelten. Der Ton war im Studio nicht zu hören. Man sah eine Lehrerin mit Grundschülern, einen Postboten vor einem
Weitere Kostenlose Bücher