Blutige Stille. Thriller
Schnapsglas, die Tischplatte. Alles, nur nicht ihn. Denn dann würde er die Wahrheit sehen.
Er wartet mit einer Geduld, die mich so ärgert, dass ich ihm am liebsten mein Bier ins Gesicht schütten würde. Ich zünde mir eine zweite Zigarette an, inhaliere tief, bestrafe meine Lungen. Lasse mir Zeit. Doch dann höre ich meine eigene Stimme.
»Zwei Monate, nachdem Daniel Lapp mich vergewaltigt hat, habe ich herausgefunden, dass ich schwanger bin.«
Meine eigenen Worte entsetzen mich. Es ist das erste Mal, dass ich sie laut ausgesprochen habe, zu laut, wie mir jetzt scheint. Ich blicke schnell um mich, will sichergehen, dass niemand sie gehört hat, doch hier hinten ist es fast leer. Die Jukebox spielt, McNarie steht hinter der Theke, sieht fern und trocknet Gläser mit einem schmuddeligen weißen Tuch. Niemand sieht in meine Richtung. Die Erde hat nicht gebebt.
Tomasetti ist nicht so leicht zu schockieren, aber ich habe es geschafft, das sehe ich ihm an. Er weiß nicht, was er sagen soll.
»Ich hatte eine Abtreibung«, fahre ich schnell fort. »Ich … konnte es nicht haben. Wollte es nicht.«
Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht. »Mein Gott, Kate.«
»Ich habe keine Sekunde darüber nachgedacht, es zu behalten. Nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde. In den Augen der Amischen ist das Mord.«
»Nicht jeder denkt so. Schon gar nicht in Anbetracht der Umstände.«
»Du bist der Einzige, dem ich das je erzählt habe.«
»Ziemlich viel Gewicht, das du die ganzen Jahre mit dir rumgeschleppt hast.«
Ich lächele ihn an. »Du und ich, wir haben starke Schultern, nicht wahr?«
»Ist wahrscheinlich gut so.«
Ich blicke auf meine Bierflasche. »Wenn ich Mary Planks Tagebuch lese, sehe ich vor mir eine richtige Person. Ein amisches Mädchen voller Hoffnungen und Träume. Ich war auch mal so. Voller Hoffnungen und Träume. Aber ich habe Glück gehabt, ich habe eine Zukunft bekommen. Sie hätte auch die Chance verdient, ihr Leben zu leben. Long hat sie gleich zweimal getötet. Zuerst hat er ihr die Unschuld genommen und dann das Leben.«
»Und dieser Fall hat die Erinnerung daran wieder wachgerufen.«
»An die Schwangerschaft und die Abtreibung habe ich schon seit Jahren nicht mehr gedacht. Ich hab’s einfach nicht zugelassen. Nicht ein einziges Mal.« Entsetzt merke ich, dass mir die Tränen hochsteigen, das Schlimmste, was einer Polizistin passieren kann. Sie zerstören das Zutrauen in deren Fähigkeiten schneller als schlechte Arbeit, durch alle Betten zu wandern oder beides zusammen.
Da ich Tomasetti nicht ansehen kann, vergrabe ich das Gesicht in den Händen. »Ich weiß, in Anbetracht der Dinge, mit denen wir es gerade zu tun hatten, ist es nicht wichtig. Und vorbei. Schnee von gestern. Die Planks sind tot, Mary ist tot, Long ist tot.«
»Es ist wichtig.« Er schiebt seine Hand über den Tisch.
Im ersten Moment habe ich Angst, dass er meine Hand nimmt, und bin froh, als er mir nur mit den Fingerspitzen über den Unterarm streicht. Zu viel Mitgefühl, und ich breche zusammen.
»Aber das Leben geht weiter«, sagt er. »Es ist eine unaufhaltsame Macht. Das war für mich am schwersten zu akzeptieren, als Nancy und die Mädchen umgebracht wurden. Dass die Lebenden zurückbleiben und leiden. Eine schlimme Wahrheit, aber so ist es nun einmal.«
»Tomasetti, du munterst mich nicht gerade auf.«
»Wozu sind Freunde denn da?«
Ich bringe ein kleines Lächeln zustande. »Wahrscheinlich bist du hergekommen, um eine Frau abzuschleppen, und stattdessen plappere ich dir die Ohren voll.«
Er lacht tief und kehlig. Es gefällt mir, und ich denke, er sollte es viel öfter tun. Und Röte überzieht mein Gesicht wie warmes Öl.
»Klingt, als ob du mich wirklich gut kennst.«
»Danke fürs Zuhören«, sage ich nach einer Weile.
»Ich bin froh, dass du es mir erzählt hast.«
Die Flasche Wodka steht halbleer zwischen uns auf dem Tisch. Aus der Jukebox tönt jetzt ein alter Rocksong von Neal Young. Ich nehme die Flasche und fülle beide Gläser auf. Es gibt mehr zu sagen, doch für heute Abend reicht es.
Tomasetti nimmt sein Glas. »Betrinken wir uns?«
»Ich glaube schon.«
»Du lebst gern gefährlich, was?«
Ich hebe mein Glas. »Noch etwas, das wir gemeinsam haben.«
Wir trinken den Wodka, stellen die Gläser ein bisschen zu heftig zurück auf den Tisch. Der Alkohol rinnt mir wie Öl die Kehle hinab und lockert meinen Verstand wie einen zugerosteten Wasserhahn.
»Glaubst du, Long hat es allein
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