Blutige Stille. Thriller
wahrscheinlich schon um zwei oder drei Uhr heute Morgen angetreten.
Nieselregen fällt aus dem bleischweren Himmel. Der Geruch von Pferden, nassem Gras und modrigem, trockenem Herbstlaub weht durch die offenen Fenster ins Wageninnere. T.J. und ich sind seit Tagesanbruch hier, als Bischof Troyer das Tor zum
Graabhof
– dem Friedhof – aufgeschlossen hat und die Totengräber ihre traurige Arbeit begannen.
In meiner Kindheit habe ich mehreren amischen Beerdigungen beigewohnt. Am Tag vor der Trauerfeier bauen die männlichen Freunde und Nachbarn des Verstorbenen einen schlichten, sechseckigen Sarg, die Freundinnen und Nachbarinnen nähen den Stoff zum Ausschlagen. Die Toten werden gewaschen und angekleidet, Männer in weiße Hose, Weste und Hemd, Frauen in weißes Kleid, weiße Schürze und
Kappe
. Bonnie trägt wahrscheinlich dasselbe Kleid, in dem sie geheiratet hat.
»Sie glauben also, dass der Mörder hier auftaucht?«
Ich wende meinen Blick von der Prozession ab und sehe T.J. an. »Schon möglich, wenn er ein Mitglied der Gemeinde ist.«
T.J. nickt. »Ein anderer würde wahrscheinlich auch auffallen.«
»Sieht ganz so aus.« Ich habe den Großteil der Nacht damit verbracht, Mary Planks Tagebuch zu lesen, und verspüre noch immer das bedrückende Gewicht ihrer Worte. Außerdem habe ich zu viel getrunken. Aber es ist nicht der Schmerz hinter den Augen, der mir zu schaffen macht. Ich hatte gehofft, in dem Tagebuch den Namen des Mannes zu finden, mit dem sie sich getroffen hat. Auch andere Anhaltspunkte wären hilfreich gewesen, zum Beispiel sein Beruf, eine Beschreibung seines Aussehens, die Marke seines Autos oder Adressen von Orten, wohin er sie mitgenommen hat. War sie extra vorsichtig gewesen, falls ihre Eltern das Heft finden würden? Oder hatte er von ihr verlangt, niemals seinen Namen zu nennen, nicht einmal in den intimsten Situationen?
Doch das Lesen des Tagebuches war nicht völlig umsonst gewesen, denn ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass es zwischen Mary Planks Liebhaber und der Ermordung der Familie einen Zusammenhang gibt. Zudem weiß ich jetzt, dass er nicht amisch ist. Im Moment ist das besser als nichts.
»Glauben Sie, der Mörder ist ein Amischer?«, fragt T.J.
»Nein.« Er wirft mir einen Warum-sind-wir-dann-hier-Blick zu, und ich erzähle ihm von dem Tagebuch. »Sie war in den Mann verliebt.«
»Von dem dann wohl auch das Sperma stammt, oder?«
»Ich glaube schon.«
T.J. denkt kurz darüber nach. »Und das Motiv?«
»Sie war schwanger und gerade mal fünfzehn. Hier in Ohio ist man mit sechzehn volljährig.«
»Das heißt, er könnte wegen Unzucht mit einer Minderjährigen angeklagt werden.«
»Und wenn er sie unter Drogen gesetzt und pornographische Bilder gemacht hat, käme noch einiges mehr dazu.«
»Klingt nach einem ziemlich starken Mordmotiv«, bemerkt T.J. »Aber warum bringt er dann die ganze Familie um?«
»Sie hatte ihren Eltern von dem Mann erzählt. Und von dem Baby.«
T.J. nickt. »Da hat er sie alle umgebracht, um sie zum Schweigen zu bringen.«
»Der Vater wollte zur Polizei gehen. Der Typ hätte mehrere schwerwiegende Anklagen am Hals gehabt – Vergewaltigung, vielleicht Kindesmissbrauch, Verführung einer Minderjährigen zu kriminellen Handlungen, Besitz von Rauschmitteln. Und wenn er pornographische Fotos von ihr veröffentlicht hat, auch wegen Kinderpornographie.« Meine eigenen Worte lassen mich angewidert den Kopf schütteln. »Er hätte jahrelang gesessen.«
»Ein ziemlich starkes Motiv.«
»Aber es erklärt nicht die Folter, mit der er die beiden Mädchen in der Scheune gequält hat.«
»So was ist schwer nachzuvollziehen. Wahrscheinlich hat er die, ähm … Gebärmutter entfernt, damit die Polizei nicht an seine DNA kommt.«
»Das ist zwar krank, aber durchaus denkbar. Vielleicht hat er die Schwester mit einbezogen, um vom eigentlichen Motiv abzulenken.« Ich führe mir die ungeheure Brutalität vor Augen und schüttele den Kopf. »Ich kann es mir als Mord aus Leidenschaft vorstellen. Der Typ dreht durch, tötet seine Freundin und erschießt dann den Rest der Familie. So was hat es alles schon gegeben. Aber das hier ist so … bestialisch.« Meine Schulter ist schon ganz feucht vom Nieselregen, und ich schließe das Fenster. »Irgendetwas haben wir noch nicht richtig begriffen.«
»Zum Beispiel?«
»Das weiß ich noch nicht.«
T.J. betrachtet den langen Zug von Buggys auf dem Weg zum Friedhof. »Glauben Sie, er ist hier aus der
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