Blutige Stille. Thriller
Gegend?«
»Wenn nicht aus Painter’s Mill, dann bestimmt aus der näheren Umgebung.«
»Also direkt vor unserer Nase.«
Er sagt noch etwas, doch ich höre nicht länger zu. Meine Aufmerksamkeit gilt einem silbernen Toyota, der in fünfzig Metern Entfernung auf dem Standstreifen stehen geblieben ist. Ein dunkelhaariger junger Mann mit Kinnbart und einer Videokamera steigt aus. Einige Buggys haben angehalten, um in den Friedhof einzubiegen. Mr Camcorder hat anscheinend entschieden, dass das ein guter Moment ist, ein Amisch-Video für YouTube zu drehen.
Doch da irrt er.
Denn während die liberaleren Amischen meist nichts dagegen haben, will die Mehrheit weder fotografiert noch gefilmt werden. Über den Ursprung dieser Haltung gibt es unterschiedliche Ansichten. Manche glauben, sie basiere auf dem zweiten Gebot in der Bibel:
Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen
. Einige Amische der Alten Ordnung sind davon überzeugt, dass man stirbt, wenn man sich fotografieren oder auch malen lässt. Doch für die meisten Amischen sind Fotos einfach nur eine eitle Zurschaustellung von Stolz und ihren Grundwerten zuwider.
Ich nehme meinen Strafzettelblock aus der Konsole und stoße die Tür auf. T.J. ruft hinter mir her, doch mein Herz pocht so laut in meinen Ohren, dass ich ihn kaum höre. Obgleich ich weiß, dass Wut in meinem Job nichts zu suchen hat, nähere ich mich aufgebracht den Touristen. Denn der amische Teil meiner Identität ist total entrüstet, dass irgendein Schwachkopf Aufnahmen von einem so privaten, herzzerreißenden Moment machen will, und das nur wegen ihres Unterhaltungswertes.
Eine zweite Person steigt aus dem Toyota, eine junge Frau mit roten Haaren und mehreren Gesichtspiercings. In abgeschnittenen Shorts und einem Sweatshirt mit dem Aufdruck der University of Michigan setzt sie sich auf die Kühlerhaube und beobachtet die Szene, als wäre sie im Kino.
Als ich kaum fünf Meter von ihnen entfernt bin, bemerkt mich der Mann. Er senkt den Camcorder und schenkt mir ein salbungsvolles Lächeln. »Hallo, Off-«
Ich entreiße ihm das Gerät und muss sehr an mich halten, es nicht auf den Boden zu werfen und drauf rumzutrampeln.
»Was soll das?«, fragt er entrüstet.
»He!« Die Frau rutscht vom Wagen und funkelt mich an. »Das können Sie nicht machen.«
Ich wirbele herum und halte ihr den Finger direkt vors Gesicht. »Noch einen einzigen Schritt näher, und Sie landen im Gefängnis.«
Sie weicht sofort zurück, als wäre sie einem bissigen Tier zu nahe gekommen. »Okay. Schon gut.«
Ich wende mich wieder dem Mann zu. Er starrt mich wütend an. Insgeheim wünsche ich mir, dass er mich angreift, damit ich ihm ordentlich eine reinhauen kann.
»Geben Sie mir den Camcorder zurück«, fordert er.
»Den können Sie abholen, wenn Sie Ihren Strafzettel bezahlen.« Ich klappe den Block auf und fange an zu schreiben.
»Strafzettel?« Er glotzt mich dumm an. »Wofür? Fürs Filmen? Schon mal was von freier Meinungsäußerung gehört?«
»Hier ist absolutes Park- und Halteverbot.« Ich zeige auf das Schild. »Schon mal was davon gehört?«
Es ist nicht das erste Mal, dass ein Tourist an dieser Stelle hält, um Fotos von einer amischen Beerdigung zu machen. Aufgrund mehrerer englisch-amischer Scharmützel in den letzten Jahren hatte der Stadtrat eine Eingabe ans County gemacht, im Umkreis von hundert Metern der Friedhofseinfahrt eine Park- und Halteverbotszone einzurichten. Und da der Tourismus einen Großteil der städtischen Einnahmen ausmacht, hat das County eingewilligt und vier Schilder aufgestellt.
»Das hab ich nicht gewusst«, sagt der Mann. »Das Schild hab ich nicht gesehen.«
»Jetzt wissen Sie’s ja.« Ich klatsche ihm den Strafzettel an die Brust. »Einen schönen Tag noch.«
Er wirft beide Hände in die Luft. »Himmelherrgott!«
»Das ist eine Beerdigung. Zeigen Sie ein bisschen Achtung.« Ich schiebe den Block in die Jackentasche und gehe Richtung Explorer, überlege es mir aber anders und drehe mich zu ihm um. »Zu Ihrer Information, die meisten Amischen mögen es nicht, fotografiert oder gefilmt zu werden. Das nächste Mal fragen Sie sie vorher um Erlaubnis.«
Als ich schließlich meinen Wagen erreiche, ist der letzte Buggy auf den Schotterweg eingebogen.
»Ich dachte schon, Sie würden ihm eine runterhauen«, sagt T.J.
»Zu viele Zeugen.«
Er sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an.
Ich zeige mit dem Finger auf ihn und lächele. »Hab’s kapiert.«
T.J.
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